Hikikomori

und dergleichen zum Standard eines idealen Lebens zu gehören scheinen, wohingegen ich mich mit Schafswolle, einem Brunnen, ein paar Stücken Brot jeden Tag zufriedengebe. Während die anderen nach Luxus streben, erfreue ich mich der Schlichtheit der Armut.
    Wenn ich mein Baumhaus auf der Terrasse umrunde und in die andere Richtung blicke, sind es zwei Projekte, die die Szenerie dominieren. Wie mir berichtet wurde, entsteht Glas in der recht komplexen Kombination von Soda, Natriumsulfat, Kalkstein, Dolomit, Feldspat, Pottasche, Borax, Salpeter, alkalihaltigen Gesteinen, Mennige, Baryt, Zinkoxid, Arsenik, Natriumchlorid und Quarzsand. Ein Ger-Fag namens Vogel1 hat mithilfe einer Horde von Anhängern Tonnen dieses Materials für eine gigantische Glaskuppel kombiniert. Er erklärte mir, er wolle einen geschützten Raum im geschützten Raum speziell für Vögel konstruieren, um alle Vogelarten dort zu beheimaten, die jemals existiert haben. Ich fragte ihn, wie das denn gehen solle, und er antwortete, in der Kombination von Federn, Fleisch, Horn und vielerlei anderer Elemente könne man jegliche Vogelart nachbilden. Danke, sagte er und verbeugte sich vor mir, dass er fast mit der Nase den Boden berührte.
    Dieses Projekt wird nur noch von Illustrissimis Kaktus übertroffen, der mittlerweile kilometerweit in die Höhe gewachsen ist. Der graue Herr musste Tag und Nacht Stahlbeton anfertigen und in einem ausgeklügelten Kransystem auf das oberste Stockwerk seines Turms hebeln, um dem schnellen Wachstum des Kaktus nachzukommen. Man sagt, er habe kein Leben außerhalb von 0 mehr. Oftmals war er so beschäftigt, dass er zu essen und trinken vergaß, umso freudiger die Samariter-Girls um Miezekatze94 und ihre Verpflegungspakete in Empfang nahm und mit ihnen auf dem frisch gegossenen Beton kurz rastete, so dass sich auch ihre Handabdrücke im Beton verewigten. Kurz bevor der Kaktus samt Turm den höchsten Punkt der Welt erreicht hätte, nämlich meinen Brokkolibaum, ging er ein; doch zugleich streute er Samen in die Landschaft, so dass sich Illustrissimi nun um zwölf Kakteentürme gleichzeitig kümmern muss, diesmal aber mithilfe vieler Turmbaufreunde.
    Aber all das ist nur ein Bruchteil von dem, was sich in Welt 0 abspielt. Das Tier ist inzwischen als offizielles Orakel von allen anerkannt, affeohnewaffe als sein weltlicher Vertreter. Die Krankenstation unter Piddybabys Leitung ist in ein offenes Labor für kleinere Operationen umfunktioniert worden, hauptsächlich auf dem Gebiet der ästhetischen Chirurgie, da Krankheiten weiterhin keine Rolle spielen. Wenn wir diese Geschwindigkeit beibehalten, werden wir die Gegenwart schnell eingeholt, noch schneller überwunden haben, ohne den Verlust eines einzigen Menschenlebens!
    Essenszeit. Helllichter Tag. 26 Grad. Anna-Marie stöhnt absichtlich so laut, wie sie nur kann. Wo sind denn jetzt die Eltern, die das unterbinden? Mit diesem Kilian will sie mich provozieren, sie will, dass ich aus der Fassung gerate, mich von der Welt ablenken lasse, bis ich irgendwas mache, das sie gegen mich verwenden können. Im Sommer braucht Anna-Marie keinen Freund, da reicht es ihr, sich den Bikini überzustreifen und mit Duckface-Lippen ins Schwimmbad zu stolzieren. In der prallsten Sonne rutscht ihr dann der Träger des Bikinis herunter, und die Jungs streunen verlässlich um ihren Liegeplatz herum und ziehen die Bäuche ein. Oder sie fahren sich durchs feuchte Haar, lassen ihre Bizepse als Vorgeschmack auf ihre Schwänze anschwellen in der Überzeugung, dass jedes Mädchen Lust bekommen muss, von diesem Ding durchstochen zu werden. Anna-Marie könnte jederzeit nach diesem Fallobst greifen und es sich einverleiben. Ich sehe die beiden förmlich vor mir: Kilians Abiturientenvisage über ihr wie ein Eber schnaubend, sie quiekend wie ein angeschossenes Wildschwein. So gut kenne ich sie, dass ich weiß, sie würde die ganze Sache lieber vermeiden. Denn eigentlich will sie nur tiefe, echte Gefühle, sie will begehrt werden, nicht dieses billige Rein-Raus-Spiel.
    Abgesehen davon geht es uns blendend. Ich atme tief durch und konzentriere mich auf 0. Das Tier auf dem Plateau umringt von Fans, ich oben auf dem Dach des Baumhauses, Girl No.1 fest an mich geschmiegt. Neuerdings finden wir gemeinsam lange verschollene Gefühle wieder. Ich sollte also die Stärke besitzen, die Jagdszene nebenan zu ignorieren, seine kümmerlichen Brunftschreie, die er mit klischeehaften Youporn-Sätzen – »Ja, gib’s mir, Baby!