Himmel über Darjeeling
erzogen worden, doch er hatte sich immer schon eher zu den heiligen Schriften hingezogen gefühlt. Hätte er eine Wahl gehabt, ohne Einschränkungen durch den Willen seines Vaters und die Geburt in seine Kaste, hätte er sich für ein Leben als Sadhu, als Asket, entschieden, der sich ganz der Meditation und Verehrung seines Gottes hingab. Immerhin war es ihm als jüngster Sohn des Rajas, der weitaus mehr Freiheiten genossen hatte als seine älteren Geschwister oder Sitara, gelungen, sich erfolgreich aus den Plänen seines Vaters für eine Verheiratung heraus zu winden. Danach, eine Familie zu gründen, hatte es ihn nie verlangt, wenn er durchaus auch hin und wieder als Jüngling den Verlockungen des Fleisches erlegen war. Und er genoss es, sich nun gänzlich seinen Studien und Meditationen widmen zu können.
Manchmal, wenn er in einer müßigen Stunde durch die Steppe ritt, im Spiegel ein weiteres graues Haar entdeckte oder von seiner Lektüre aufsah, fragte er sich, wie sein Leben wohl verlaufen wäre, hätte nicht die englische Regierung ausgerechnet Winston Neville auf diplomatische Mission nach Rajputana entsandt. Und je länger er über den Gesetzen von Karma und dharma meditierte, das Wesen Vishnus zu ergründen versuchte, desto mehr begriff er, dass sein Karma nicht in erster Linie darin bestanden hatte, Sitara zu schützen. Zweimal hatte sie dem nahenden Tod entgehen können; das dritte Mal war ihr nicht vergönnt gewesen. Aber er hatte ihren Sohn gerettet. Es war um Ian gegangen, von Anbeginn an; Ian, dessen Schicksal untrennbar mit dem seinen verbunden war, und seine Aufgabe bestand darin, ihm zu dienen, so gut er es vermochte, als Anhänger Vishnus und Krishnas. Er begriff, dass alles, was sie erlebt hatten, vom Schicksal vorgezeichnet gewesen war, und machte seinen Frieden mit den Göttern, nahm alles demütig als Teil des großen göttlichen Plans an.
Zwei Jahre blieb Ian fort; zwei Jahre, in denen er nur wenig schrieb, kurze Zusammenfassungen der Stationen ihrer Reise und nichts darüber, was in ihm vorgehen mochte. Ajit Jai Chands Briefe waren aufschlussreicher: Er beschrieb, wie Ian vor dem dreiköpfigen Shiva aus Stein in Gharapuri sein Leben in den Dienst des Gottes stellte, wie sie durch das ganze Land zogen, bis hinauf in den Himalaya, der Wohnstatt Shivas, wo Ian dem Brauch nach am vierzehnten Tag des Monats makha , des Februars, fastete, in der folgenden Nacht betete und die Blätter, Blüten und Früchte des margosa -Baumes dem steinernen Lingam, dem Phallussymbol Shivas, opferte, um sich das Wohlwollen des Gottes und einen Platz in seinem Paradies hinter dem Kailash zu sichern. Er berichtete, wie er Ian stundenlang schindete, ihn meilenweit rennen ließ, während er mit seinem Pferd nebenhertrabte; wie er ihn in den Felswänden des Himalaya herumklettern ließ; wie Ian lernte, vom Sattel des galoppierenden Pferdes aus mit dem Bogen oder der Pistole auf ruhende, später dann auf bewegliche Ziele zu schießen; wie er ihn lehrte, sich in Trab oder Galopp aus dem Sattel zu lehnen, um Gegenstände, die links und rechts an Pfosten angebracht waren, zu ergreifen, ihn lehrte, sich geräuschlos anzuschleichen, mit ihm Tiger, Antilopen und Wüstenfüchse zu jagen. Mohan schmunzelte, als er von dem unerbittlichen Drill las, dem Ajit Ian unterwarf, und dachte, wie wenig sich doch an den Methoden geändert hatte, seit er in Ians Alter gewesen war. Aber Ajit lehrte Ian auch, was es bedeutete, ein Krieger zu sein, welchen Stellenwert Ehre und Treue hatten, List und Vorsicht, und er ließ ihn die alten Schriften auswendig lernen, die Philosophen früherer Jahrhunderte, und sie konnten stundenlang über einen einzelnen Satz disputieren. Und es berührte Mohan, wenn er las, wie sehr Lakshmi, Ajit Jais Frau, Ian in ihr Herz geschlossen hatte. »Er ist mir wie ein eigener Sohn«,hatte sie in ihrer ungeübten Handschrift unter einen von Ajits Briefen gesetzt und in ihrer überschwänglichen Art hinzugefügt: »Und es zerreißt mir das Herz, ihn wieder gehen lassen zu müssen.«
Als Ian zurückkehrte, war aus dem schlaksigen Jungen ein Mann geworden, stark und sehnig, der älter wirkte als fast achtzehn, nicht zuletzt durch den Oberlippenbart, den er sich hatte wachsen lassen. Mohan erkannte ihn kaum wieder, als er im Innenhof von seinem Pferd abstieg; denn mehr noch als sein Äußeres schien sich sein Wesen verändert zu haben. Er wirkte gelöst, fast heiter, lachte viel – er schien seinen Frieden gefunden
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