Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
Vom Netzwerk:
während der Rebellion selbst als auch danach. Es war mehr als ein historisches, ein militärisches Ereignis gewesen – es hatte die Seelen der Menschen, indische wie europäische, aufgewühlt, und sowohl seine emotionale Bedeutung als auch der Zeitgeist jener Jahre, der einen rasanten Fortschritt der journalistischen Berichterstattung beinhaltete, machten ihn zu einem der ersten minutiös dokumentierten Kriege.
    Stück für Stück gelang es Ian, die Entwicklung zu begreifen, die im Ausbruch des Aufstandes gegipfelt hatte, die Geschehnisse jenes Tages in Delhi zu rekonstruieren, die seine Mutter und seine Schwester das Leben gekostet hatten. Falls Ian um sie trauerte, so zeigte er es nicht, und er sprach auch nie über sie, aber Mohan glaubte zu bemerken, dass er irgendwann begriffen hatte, dass an ihrem Tod niemandem unmittelbar die Schuld zu geben war – es war eine Verkettung unglücklicher Umstände, sie selbst waren zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Doch Mohan spürte auch, dass Ian in all den Nachrichten und Aufzeichnungen nach einem Hinweis auf den Verbleib seines Vaters suchte. Dass diese Suche vergeblich, Winston spurlos verschwunden blieb – das schmerzte Mohan zu sehen, auch wenn Ian darüber nie ein Wort verlor.
    Es waren ruhige Jahre, die sie auf Surya Mahal verbrachten, im Rhythmus der Jahreszeiten und den geregelten Tagesabläufen des Palastes. Ians Tag begann mit Ausritten und Bogenschießen; Unterrichtsstunden in Englisch, Hindi, Sanskrit und Urdu folgten, in Landeskunde, Geschichte, Mathematik, den alten Schriften. Von einem Brahmanen erhielt er religiöse Unterweisungen über die puja , die täglichen Gebetsriten; der Haushofmeister übte mit ihm den Ablauf offizieller Zeremonien und brachte ihm die Feinheiten höfischer Etikette bei – wie lange es dauerte, die Stufen zum Thron des Rajas hinaufzuschreiten, um ihm die traditionellen nazarana , die Gaben zum Zeichen der Treue an den Herrscher, zu überreichen, wie lange, rückwärts zum eigenen Platz zurückzukehren, ohne dabei zu fallen oder zu stolpern. Und ein altgedienter Krieger des Rajas namens Ajit Jai Chand lehrte Ian den Kampf Mann gegen Mann, mit den Fäusten, dem Schwert und der Feuerwaffe.
    Besagter Ajit Jai Chand war es, den der Hausdiener eines Nachmittags meldete, als Mohan Tajid sich in dem Studierzimmer, das er sich eingerichtet hatte, Notizen zu einem Vers der Bhagavadgita machte.
    » Namasté , Euer Hoheit«, verbeugte sich Ajit Jai ehrerbietig, die Handflächen zum Gruß zusammengelegt, »verzeiht mein ungebührliches Betragen, dass ich Euch ohne vorherige Benachrichtigung aufsuche.«
    » Namasté , Ajitji«, erwiderte Mohan die Begrüßung und setzte die ehrenvolle Bezeichnung für einen älteren Mann hinter dessen Namen, obwohl dieser nur wenige Jahre älter war als er selbst, »kein Grund, mich deswegen um Verzeihung zu bitten.« Er schickte den Hausdiener um Tee und Gebäck, und während sie darauf warteten, machten sie höfliche Konversation über das Wetter, die neuen Pferde in den Stallungen, erkundigten sich gegenseitig nach dem Wohlbefinden des anderen, und Mohan fragte nach Chands Ehefrau Lakshmi und ihren vier Söhnen. Als der Tee gebracht wurde und sie wieder alleine waren, ließen sie sich mit gekreuzten Beinen auf den dicken Polstern nieder.
    »Lassen wir alle Förmlichkeiten beiseite, Ajit. Dafür haben wir uns zu oft als junge Männer balgend im Dreck gewälzt. Was führt dich zu mir?«, begann Mohan.
    Sein Gegenüber grinste. »Du hast es mir nie verziehen, dass ich immer der bessere Krieger war, nicht?«
    »Ich konnte gut damit leben«, schmunzelte Mohan, »immerhin habe ich mich wacker gegen dich geschlagen. Aber der Raja konnte es nicht. Er hat es weder dir noch mir je verziehen.«
    Ajits freundliches Gesicht wurde mit einem Schlag ernst.
    »Es ist etwas ganz anderes, was er mir nie verziehen hat.«
    Mohan sah ihn prüfend über den Rand seines Teeglases hinweg an. »Du meinst …«
    »Mein unreines Blut, ja.« Ajit Jai stammte aus einer Nebenlinie des Chand-Clans, die zwischen dem Stammbaum von Mohans Familie und dem des Maharajas von Jaipur verlief, und sein Urgroßvater war ein französischer Soldat gewesen. Ajit Jai grinste schief. »Deshalb hat er mich auch nie zu einem seiner Leibgardisten gemacht, obwohl er meine Fähigkeiten und Leistungen durchaus anerkannte. Trau nie einem, der nicht reinster Rajputenabstammung ist«, zwinkerte er Mohan ironisch zu, ehe er wieder ernst in sein Teeglas

Weitere Kostenlose Bücher