Himmel über Darjeeling
blickte. »Aus einem ähnlichen Grund bin ich heute hier. Es geht um den Jungen.«
»Hat er etwas angestellt?«
Ajit wackelte mit dem Kopf. »So in etwa, ja. Ich bin gestern Morgen zufällig Zeuge geworden, wie er den Sohn des Rittmeisters verprügelt hat. Er hat ihn ziemlich übel zugerichtet.«
»Rao?« Mohan dachte an den rundlichen Jungen, der etwa in Ians Alter sein musste, fünfzehn oder sechzehn.
»Nein, den älteren, Ashok.«
Mohan pfiff anerkennend durch die Zähne. Ashok war achtzehn und gut zwanzig Kilo schwerer als Ian.
»Ich hatte große Mühe, ihn von Ashok wegzuzerren, der wimmerte wie ein kleines Kind.« Ajit rümpfte verächtlich die Nase über seinem dichten Bart. »Wie ein Tiger in seine Beute hatte Rajiv sich in ihn verkrallt.«
»Konntest du den Grund für ihren Streit herausbekommen?«
»Ich musste Rajiv lange bearbeiten, bis er schließlich zähneknirschend damit herausrückte, dass Ashok ihn einen dreckigen kleinen Bastard genannt hatte, der das Pferd, das ihm der Raja zum Geburtstag geschenkt hatte, gar nicht verdiente.«
Jeder im Palast wusste, dass der Enkel des Rajas zwar behandelt wurde wie ein Rajputenprinz, aber fremdes Blut in den Adern hatte und aus einer unehrenhaften Verbindung stammte, über die jedoch eisiges Schweigen gewahrt wurde. Wie oft er deshalb Hohn und Spott erdulden musste, konnte Mohan Tajid nur erahnen, denn auch darüber sprach er nicht.
»Schau, Mohan«, drang Ajits Stimme in seine Gedanken, »ich mag den Jungen, aber was ich in seinen Augen gesehen habe, als er auf Ashok eindrosch, gefiel mir nicht. Ein solcher Hass ist nicht gut, schon gar nicht in diesem Alter. Weißt du, wie ihn die Kinder nennen? Rajiv, das Chamäleon , weil er sich mal von oben herab als Sahib gibt, mal als Enkel des Rajas, je nachdem, was ihm angemessener erscheint. Er ist nicht wie die anderen, und sie lassen es ihn spüren.«
Mohan sah Ajit offen an. »Wie ich dich kenne, bist du nicht hergekommen, um mir nur deine Beobachtungen mitzuteilen.«
Ajit schüttelte den Kopf mit dem scharlachroten Turban. »Nein. Mohan, weißt du, ich werde älter. Ich habe mein ganzes Leben hier im Palast verbracht, und fast die Hälfte dieses Lebens damit, in Schlachten zu kämpfen und Krieger auszubilden. Allmählich werde ich müde. Ich will noch etwas von meinen Söhnen sehen, ehe sie aus dem Haus gehen und eigene Familien gründen. Deshalb«, er atmete tief durch, »deshalb werde ich demnächst aus den Diensten des Rajas ausscheiden. Ich hab mir ein Haus in Jaipur gekauft, wo ich in Ruhe mit Lakshmi alt werden möchte. Der Raja mag mir gegenüber immer misstrauisch gewesen sein, aber er hat mich für meine Dienste fürstlich entlohnt.« Er trank einen Schluck. »Ich hatte lange Zeit, um Rajiv zu beobachten, wenn ich ihn unterrichtet habe. Er ist wie ein Pulverfass, auf das langsam eine glühende Lunte zustrebt. Er ist der geborene Krieger – das Leben hier im Palast ist nichts für ihn, nicht auf Dauer. Bevor ich mich zur Ruhe setze, möchte ich noch eine Pilgerreise unternehmen, in den Tempel von Gharapuri und in den Himalaya, zum Berg Kailash. Ich möchte ihn mitnehmen, Mohan, auf diese Reise und zu mir nach Jaipur.«
Abwartend sah er sein Gegenüber an. Mohan kannte Gharapuri nur vom Hörensagen. Die kleine Insel, zwei Stunden mit dem Boot vom Hafen Bombays entfernt, war eine über tausend Jahre alte Kultstätte verschiedener Götter, allen voran jedoch Shivas. Gharapuri und Kailash …
»Demnach hat er Shiva zu seinem ishta erwählt?«
Ajit Jai nickte. »Shiva und Kali. – Enttäuscht dich das?«
»Nein.« Mohan dachte einen Augenblick lang nach. »Ich glaube, ich habe nichts anderes erwartet. Nicht, wenn man bedenkt, was er gesehen und erlebt hat.«
»Der Raja hat dem Vorhaben zugestimmt. Jetzt wollte ich dich noch um deinen Segen bitten.«
Mohan lächelte. »Den braucht ihr nicht. Aber ich gebe ihn euch gern, wenn du darauf bestehst. – Du wirst ihm ein guter Lehrmeister sein, Ajitji«, fügte er leise hinzu.
Ajit machte eine abschwächende Handbewegung. »Ich zeige ihm nur den Weg. Gehen muss er ihn allein. Er hat viel von einem echten Rajputen in sich.« Er zögerte, blickte nachdenklich in sein leeres Glas und fügte leise hinzu: »Vielleicht zu viel.«
19
E s fiel Mohan nicht leicht, Ian ziehen zu lassen, aber er war weise genug, um zu spüren, dass es an der Zeit war, Ian seinen eigenen Weg gehen zu lassen, so wie er seinen eigenen gehen musste. Mohan war zum Krieger
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