Himmel über Darjeeling
haben. Doch in manchen Momenten, von den meisten unbemerkt, konnte er noch den alten Ian aufscheinen sehen – in Momenten, in denen er sich unbeobachtet glaubte, in denen seine Augen sich verdunkelten, er abwesend schien, und Mohan hätte nicht zu sagen vermocht, ob er dann in der Vergangenheit verweilte oder seine Gedanken in eine unbestimmte Zukunft wanderten.
Zu Ians Ehren ließ der Raja ein Fest veranstalten. Eine mit goldbesticktem Seidenstoff bespannte Tribüne unter einem schattenspendenden Baldachin wurde vor dem Palast errichtet, in der weiten Fläche davor ein Turnierpark mit verschiedenen Hindernisaufgaben, in denen die jungen Männer des Palastes den ganzen Tag lang miteinander wetteifern sollten.
Ian stellte sich gerade in den Steigbügeln des galoppierenden Pferdes auf, spannte den Bogen und ließ den Pfeil gen Himmel schwirren, wo er zielgenau den Vogel traf, den einer der Burschen gen Himmel hatte flattern lassen. In den aufbrandenden Applaus der Zuschauer auf und vor der Tribüne hinein hörte Mohan den Raja neben sich murmeln:
»Ich hatte Recht: Er ist ein wahrer Krieger.« Höchste Anerkennung lag in seinen Worten und seinem Blick. Mohan war es noch immer ein Rätsel, wie der Raja und sein Enkel zueinander standen. Er wusste, beide hatten immer wieder Zeit allein miteinander verbracht, seit jener ersten Begegnung in den Gemächern des alten Chand. Manchmal konnte man sie nebeneinander durch die Gänge spazieren oder Seite an Seite in einem Innenhof sehen; manchmal verschwand Ian hinter den Türen des Rajas und tauchte erst einige Stunden später wieder auf. Was sie miteinander sprachen – darüber verlor keiner der beiden je ein Wort. Mohan wusste nicht, ob sie sich Liebe oder Hass entgegenbrachten. Vielleicht beides, dachte er oft.
»Vishnu sei den feringhi gnädig, wenn er zu ihnen zurückkehrt«, fügte Dheeraj Chand hinzu, so leise, dass nur Mohan direkt neben ihm ihn verstehen konnte. Mohan sah Ian zu, wie er zum wiederholten Male eine Ringelblume in vollem Galopp von einem Holzpfosten pflückte, was eine erneute Welle des Applauses zur Folge hatte.
»Glaubt Ihr wirklich, er wird zurückgehen?«
Der Raja nickte, während er mit Blicken Ians Weg durch den Parcours verfolgte. »Davon bin ich überzeugt. Es ist die Stimme seines Blutes. Er wird ihr nicht ewig ausweichen können. Und ich glaube, er will es auch gar nicht – selbst wenn es ihm zum Verhängnis werden sollte. Seine Seele ist zerrissen, schwebt zwischen zwei Welten. Das ist das Vermächtnis, das seine Eltern ihm hinterlassen haben. Zu schade«, seufzend tappte er mit seinem Stock auf die Holzbohlen des Tribünenbodens, »dass ich nicht mehr erleben werde, ob es ihm gelingen wird, diesem Fluch zum Trotz seinen Platz zu finden.«
Mohan musterte seinen Vater. Mit jedem Jahr schien er fragiler zu werden, sich mehr unter der Last seiner Jahre zu beugen. Er hatte in letzter Zeit oft geäußert, dass er des Lebens allmählich überdrüssig würde und darum betete, sein atman , seine Seele, möge bald in den Schoß des brahman , der Weltseele, zurückkehren. Sein ältester Sohn Manjeet hatte fast zur Gänze die Geschicke des Stammsitzes der Chands mehrere Hundert Meilen westlich übernommen; Dheeraj Chand stand der Familie und dem Fürstentum nur noch nominell und in grundlegenden Entscheidungen vor, nachdem er beschlossen hatte, seinen Lebensabend auf Surya Mahal, von jeher sein Lieblingspalast, zu verbringen.
Nachdenklich wandte Mohan seinen Blick wieder dem Turnierplatz zu. Ian hatte sein Pferd gewendet und überreichte lachend die Ringelblume einem jungen Mädchen am Rande der Zuschauermenge, die sie errötend entgegennahm und sittsam ihr Gesicht mit dem Ende ihres Saris verhüllte. Als Ian dem Pferd die Sporen gab, wurde sie von ihren Freundinnen umringt, die in ein helles Kichern ausbrachen.
»Plant Ihr ihn zu verheiraten?«
Der alte Chand lachte leise auf. »Nein, Mohan, gewiss nicht. Ich mag manchen Fehler in meinem Leben begangen haben, aber ich bin kein Narr. Rajiv hat nicht nur den Eigensinn der Chands geerbt, sondern darüber hinaus auch seines Vaters Sturheit. Wenn er sich je binden wird, wird er allein das entscheiden. Aber ich bezweifle, dass er sich jemals Zügel anlegen lassen wird. Und falls er es doch tun sollte, bedaure ich jenes arme Geschöpf schon jetzt. – Begleite mich bitte ins Haus, ich möchte mich noch ein wenig ausruhen vor dem Bankett heute Abend.«
Unzählige Laternen erhellten den großen
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