Himmel über Darjeeling
unverfrorenen Geste riss er den Türflügel auf und ließ ihr den Vortritt.
»Lassen Sie bitte mein Pferd versorgen«, warf sie ihm hochnäsig zu, aber innerlich war ihr bang zumute.
Sie folgte dem Hoteldiener durch die edel eingerichteten Gänge mit den Seidentapeten, bis er vor einer der Türen aus rötlich schimmerndem Holz Halt machte. Er klopfte, einmal, zweimal, ein drittes Mal, dann antwortete gedämpft eine schlaftrunkene Stimme.
»Sir, verzeihen Sie die Störung, aber hier ist – «, er räusperte sich, was Helena erneut das Blut ins Gesicht schießen ließ, » Besuch für Sie.«
Es vergingen ein paar Augenblicke, dann öffnete sich die Tür. Halb verärgert, halb verwundert sah Richard Carter den Hausdiener an; dann erst bemerkte er den Grund für diese Störung.
»Helena …« Hastig verknotete er den Gürtel seines Morgenmantels über dem Seidenpyjama. Die Strähnen seines glatten braunen Haares, die ihm ins Gesicht fielen, ließen ihn jungenhaft wirken.
Helena wollte ihn begrüßen, aber die Kehle war ihr wie zugeschnürt. Sie sah ihn nur an, und dann gaben ihre Knie nach. Richard fing sie auf, und sie hörte ihn hastig Tee und Frühstück bestellen, und jemanden, der den Kamin anheizte, dann schloss sich die Tür hinter ihnen.
Er führte sie zu dem Sofa, das vor dem Kamin stand, und drückte sie sanft in die Polster. Willenlos ließ sie es zu, dass er ihre Stiefel auszog und sie in eine weiche Wolldecke hüllte.
»Du zitterst ja.« Er setzte sich zu ihr, zog die Decke um sie zurecht. »Willst du mir nicht sagen, was geschehen ist?« Mit dem Handrücken strich er über ihre Wange und sah ihr forschend ins Gesicht.
Ein Damm barst, und in seinen Armen begann sie zu weinen, Tränen der Angst, des Zorns, der Trauer und der Erschöpfung. Wie durch eine Wand nahm sie wahr, dass geklopft wurde, Richard ein paar Worte sagte, Schritte geschäftig hin- und hereilten, Geschirr leise klirrte, das Reißen eines Zündholzes, das Knistern entflammten Holzes, dann wieder Schritte, die Tür, Stille.
Endlich hob sie den Kopf, fuhr sich über die nassen, glühenden Wangen, zog die Nase hoch.
»Ich – ich habe ihn verlassen«, murmelte sie schluckend, und neue Tränen flossen.
Sanft fuhr Richard über ihre Schläfe und das Jochbein.
»War er das? Grundgütiger.« Er stand auf und ging zu einem Schränkchen auf der anderen Seite des Raumes, auf dem verstöpselte Kristallflaschen mit braunen und klaren Flüssigkeiten standen. Helena betastete die Stelle mit ihren Fingerspitzen und spürte verkrustetes Blut. Sie wollte Ian verteidigen, aber sie brachte kein Wort heraus. Mit einem alkoholgetränkten Taschentuch betupfte er die Wunden, und Helena sog scharf die Luft ein.
»Ich weiß«, sagte er leise, »ist gleich vorbei«, und goldene Fünkchen tanzten dabei zärtlich in seinen Augen. Er zog sie an sich und wiegte sie sanft, küsste sie leicht auf die Stirn, den Haaransatz.
»Es ist vorbei, du musst nicht wieder zurück.«
Es ist vorbei …, wiederholte Helena stumm, doch die erhoffte Erleichterung wollte sich nicht einstellen.
»Ich bringe dich fort von hier. Schon morgen, wenn du willst.« Er langte hinüber zum Tisch, nahm eine der dampfenden Tassen und hielt sie Helena hin. »Dieses Land kann einem wirklich die Seele rauben«, sagte er leise wie zu sich selbst. Dankbar nahm Helena die Tasse entgegen und trank den heißen Tee in kleinen Schlucken. Richard sah ihr aufmerksam zu. Gedankenvoll strich er mit dem Fingerrücken über ihre Wange.
»Du hast etwas Besseres verdient als das«, murmelte er.
Als was?, fragte sich Helena. Der warme Dampf ließ ihre Lider schwer werden, und erst jetzt merkte sie, wie müde sie war. Richard beugte sich vor und küsste sie sanft auf die Wange, unterhalb ihrer Blessuren, dann nahm er ihr die Tasse ab und stellte sie zurück. »Schlaf erst einmal.«
Er half ihr auf und führte sie in das angrenzende Schlafzimmer. Die Decke war noch zurückgeschlagen, sein Kissen zerknüllt. Schwer fiel Helena auf das Bett und spürte noch, wie er die Decke über ihr zurechtzog und sie sanft küsste, ehe er die Tür leise hinter sich schloss und sie augenblicklich in die Schwärze des Schlafes hinabsank.
3
A ls sie erwachte, wusste sie nicht, ob es Tag war oder Nacht. Ein Geräusch erregte ihre Aufmerksamkeit, und sie lauschte nach draußen. Das gleichmäßige Rauschen vor dem Fenster, dessen Vorhänge zugezogen waren, verriet ihr, dass der Monsun eingesetzt hatte, und leise, fast
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