Himmel über Darjeeling
fügte sie hastig hinzu, als sie Mohans verständnislosen Blick sah. Doch er hatte rasch begriffen und schüttelte den Kopf.
»Ich weiß es nicht. Ich nehme an«, er neigte mit einem Schmunzeln den Kopf, »sie wurden glücklich, nachdem sie einige Hindernisse hatten überwinden müssen. Märchen nehmen immer ein gutes Ende.« Helena starrte an ihm vorbei in die Dunkelheit, und ihre Kehle war eng.
Märchen ja – das Leben nicht …
Sie nickte mit einem schwachen Lächeln und stieg auf. Gern hätte sie noch etwas gesagt, aber sie konnte nicht. Mit einem leisen Schnalzlaut drückte sie ihre Fersen in Shaktis Flanken, und die Schimmelstute trabte munter vorwärts.
Helena spürte die Blicke in ihrem Rücken, Mohans besorgten, die verwunderten von Yasmina und dem Stallburschen, und sie wollte sich noch einmal umdrehen, noch ein Mal, ein letztes Mal, Shikhara sehen, die erleuchteten Fenster, den Lichtschein in der Eingangstür, doch wie aus weiter Ferne hörte sie Mohan leise sagen: »Blick nie zurück – nie …«
Der Wächter öffnete einen Flügel des schmiedeeisernen Eingangstores und rief ihr einen freundlichen Gruß zu, den Helena nur mit einem knappen Nicken erwiderte, dann riss sie am Zügel und galoppierte los, jagte den Hügel hinauf, in die Nacht hinaus.
Leise und ohne anzuklopfen öffnete Mohan Tajid die Tür zu Ians Schlafzimmer. Die Glut im Kamin war am Verlöschen, ließ zusammen mit dem gedämpften Licht, das hinter ihm aus der Halle in den Raum fiel, nur Konturen erahnen, Ians Umrisse, wie er vor der Tür zum Balkon stand und hinaus in die Dunkelheit starrte.
»Sie ist fort.« Er schloss die Tür hinter sich, und Dunkelheit füllte den ganzen Raum. Schwach konnte er Ians weißes Hemd ausmachen, ein lichter unbeweglicher Fleck in der Finsternis.
»Du hast es ihr erzählt«, drang Ians Stimme nach einer Weile zu ihm herüber.
»Ja. Alles.« Mohan machte eine kleine Pause, ehe er hinzusetzte: »Es wäre an dir gewesen, das zu tun. Und das schon vor geraumer Zeit.«
»Vielleicht.« Der helle Fleck bewegte sich, und Mohan konnte das Anreißen eines Zündholzes hören, sah den Funken, das Flämmchen, das für einen Augenblick Ians Gesicht beleuchtete, als er die Zigarette ansteckte, ein maskenhaft starres Gesicht, ehe es wieder verlosch. Mohan hörte, wie Ian tief den Rauch einsog und mit rauer Stimme sagte: »Aber das spielt nun auch keine Rolle mehr.«
Mohan Tajid wusste nicht, wann er sich das letzte Mal derart hilflos gefühlt hatte. Ian hatte Shivas Macht beschworen, und Shiva in seinem wilden Tanz hatte die Ahnung von Glück, die greifbar nahe gewesen war, unter seinen Füßen zertreten.
»Ich will allein sein. Schick auch das Personal fort; ich will niemanden im Haus wissen«, klang Ians Stimme metallisch vom Fenster her.
Wortlos verließ Mohan Tajid das Zimmer. Wie betäubt stand er einen Augenblick an der Galerie und sah hinab in die Halle, die so trostlos wirkte trotz ihrer nächtlichen Beleuchtung. Vishnu, hilf, bat er stumm, lass nicht alles umsonst gewesen sein.
2
E s war finster, der Tagesanbruch noch ein gutes Stück weit entfernt. Die dicken Wolken, die aus allen Poren bereits locker sitzende Wassermassen schwitzten, verschluckten das Licht der Sterne und des Mondes, doch Shakti kannte ihren Weg, wieherte leise und freudig. Das Schlagen ihrer Hufe auf dem Weg war das einzige Geräusch in der Dunkelheit; selbst die Nachttiere duckten sich, warteten gebannt auf das Losbrechen des Monsuns. Auf verschiedenen Seiten leuchteten Blitze auf, gelblich, fast orangerot, bläulich, beleuchteten für Sekundenbruchteile die kompakten, herandräuenden Wolken, die tief im Tal hingen, ließen Schattenrisse von Feldern und Waldrändern aufflackern. Helena atmete erleichtert auf, sog tief die feuchte Luft ein, die schwer nach Erde und Laub roch. Ein Wind kam auf, fuhr ihr durch das Haar, ließ Blätter und Gräser unverständliche Lautkaskaden raunen. Sie fühlte sich frei und leicht, als sie auf dem Rücken Shaktis davonritt, alles hinter sich ließ, was sie bedrückte, ihr das Atmen erschwert hatte, in den letzten Wochen, den letzten Stunden. Ihr Kopf war angenehm leer und schwieg – doch ihr Herz war schwer, ballte sich hart zusammen, drückte schmerzhaft gegen ihre Rippen, und jeder seiner Schläge war wie ein kleiner Nadelstich. Und dann, ungefragt und unwillkommen, drängten wie die Wolkenwand gegen die Hänge des Himalaya Bilder in ihr herauf, Stimmen, aus weiter Ferne. Helena zog das
Weitere Kostenlose Bücher