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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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End blieb, unaufhaltsam davon. Ihr graute bei dem Gedanken, ihr Kind, das sie vom ersten Atemzug an begleitet hatte, einem völlig Fremden anzuvertrauen, es in ein gottloses Land gehen zu lassen, wo sein Leben durch Hitze und Krankheiten bedroht sein würde. Doch die Vorstellung, sie einem freudlosen, altjüngferlichen Schicksal voller Demütigungen zu übergeben, schien ihr ungleich grausamer. Im Haus ihrer Tante würde Helena zugrunde gehen, langsam, aber sicher, und auf ehrlose Weise. Noch blieb etwas Zeit – Zeit, um in die Speichen des Schicksalsrades zu greifen, seiner Fahrt eine andere Richtung zu geben. Vorsichtig wählte sie ihre Worte.
    »Eine arrangierte Ehe ist nicht das Schlechteste, weißt du.« Sie rechnete mit einem Aufbäumen Helenas, einer scharfen Erwiderung, doch nichts geschah. Als hätte sie keines der Worte vernommen, saß das Mädchen weiter regungslos da; allenfalls die leichte Bewegung, in der sie ihre Arme noch fester um den Körper schlang, verriet, dass sie Margaret zugehört hatte.
    »Mit der Zeit gewöhnt man sich aneinander, lässt dem anderen in einem bestimmten Rahmen seine Freiheit, besonders, wenn ein gewisser Wohlstand vorhanden ist. Irgendwann wird er sicher auch aufhören, seine Rechte einzufordern – Männer haben da ihre Mittel und Wege …«
    Sie sah, wie Tränen Helenas Wangen herabrannen. Margaret legte behutsam eine Hand auf ihre Schulter. »Denk dabei auch an Jason – an seine Zukunft,« flüsterte sie in Helenas wildes Haar.
    Sie sah, wie Helenas Augen zum Fenster wanderten, ihr Blick dem ähnelnd, als sie damals als kleines Mädchen zum ersten Mal an der Wiege ihres Bruders stand, voller Zärtlichkeit.
    »Du hast uns alle in der Hand, Helena, besonders Jason. Du allein kannst das Unheil noch abwenden.«
    Ein Schluchzen lief wie ein Krampf durch Helenas schmalen Körper.
    »Ich kann nicht, Marge«, brachte sie erstickt hervor, »alles, nur das nicht! Es ist zu viel verlangt!«
    Unwillkürlich packte Margaret fester zu.
    »Du bist es ihm schuldig – du bist alles, was er hat! Du würdest es dir nie verzeihen, wenn du ihn jetzt im Stich ließest. Er ist doch noch so jung …«
    Helena hob den Kopf und sah sie unter Tränen an. Margaret kannte ihr Kind, wusste, dass es sie nicht enttäuschen würde. Ohne Eile trat sie zum Sekretär, griff nach Tinte, Papier und Federhalter und hielt sie Helena hin. Als böte sie ihr stattdessen Giftschlange, Skorpion und Vogelspinne an, starrte Helena darauf, focht einen sichtbar heftigen Kampf mit sich aus.
    Margaret empfand Mitleid mit ihr, die gezwungen war, eine Entscheidung von so weitreichender Bedeutung zu treffen, die ihr Leben unwiderruflich in neue, ungewollte Bahnen lenken würde. Aber das Leben hatte sie selbst gelehrt, in solchen Momenten auf sentimentale Schwäche zu verzichten und Entschlossenheit zu wahren, mochte diese auch an Grausamkeit grenzen.
    Mit einer fahrigen Bewegung griff Helena nach dem Schreibzeug. Nehme Ihr Angebot an , kritzelte sie hastig auf den Bogen und unterschrieb ihn, ehe sie ihn Margaret hinhielt, den Kopf gesenkt unter der Last dieser Demütigung. Rasch nahm Margaret ihn an sich, bevor Helena es sich anders überlegen und ihn in ihrer impulsiven Art sogleich wieder zerfetzen konnte.
    »Gutes Kind«, flüsterte sie heiser vor Erleichterung und strich Helena zart über die nassen Wangen, ehe sie sich beeilte, die Nachricht so schnell wie möglich ihrem Empfänger zukommen zu lassen.
    Unbeweglich lauschte Helena den sich entfernenden Schritten Margarets und dem angstvollen Dröhnen in ihrem Innern, das immer weiter anschwoll, und ihr war, als hätte sie soeben ihr Todesurteil unterzeichnet, das sie zwar körperlich am Leben ließ, ihre Seele aber lebendig begrub.
    Stunde um Stunde verstrich, und jedes Geräusch in der Nähe des Hauses ließ die beiden Frauen auffahren, in der Angst, die Nachricht sei zu spät gekommen und der Vollstreckungsbeamte kündigte sich an. Doch niemand kam, und die Stille, die Ereignislosigkeit des langsam dahinkriechenden Nachmittags war unerträglich.
    Endlich, nach Einbruch der Dunkelheit, als Margaret in einem Aufflackern nervöser Unrast die Lampen entzündet hatte, näherte sich der Hufschlag eines Pferdes. Margaret, der das Schlimmste lieber war als quälende Ungewissheit, sprang auf und eilte hinaus.
    Helenas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie wollte sich noch tiefer in ihrem Sessel verkriechen, zwischen den Ritzen des harten, buckligen Polsters verschwinden, doch mit

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