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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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einzuwickeln!«
    »Ich habe dich noch nie um etwas gebeten, Alastair, aber jetzt brauche ich deine Hilfe!«
    Verzweifelt klammerte sich Helena an den Rockärmel des jungen Mannes, der hilflos ihren brennenden Blicken auswich.
    »Ich – ich kann nicht, Helena, so sehr ich das auch möchte! Mutter kontrolliert meine sämtlichen Ausgaben. Selbst wenn er mir die Schuldscheine verkaufte, könnte ich sie nicht bezahlen.«
    »Erzähl ihr irgendetwas, erfinde irgendeine Geschichte – Spielschulden, oder dass du das Geld aus einer Laune heraus für einen wohltätigen Zweck gespendet hast. Spiel ihm einfach vor, du wolltest sie ihm abkaufen, nimm die Papiere an dich und lass ihn dann ins Leere laufen!«
    »Das kann ich nicht, Helena, das wäre unehrenhaft – Ian ist unser Gast!«
    »Ist es etwa ehrenhaft, uns unverschuldet in solche Not zu bringen?« Helenas Augen sprühten Funken. Per Eilbote war an diesem Morgen das Schreiben eingetroffen, in dem Ian Neville als neuer Gläubiger Helena dazu aufforderte, unverzüglich die ausstehende Summe zu begleichen oder World’s End zu räumen. »Alastair, bis morgen muss ich das Geld aufgetrieben haben, oder er jagt uns von hier fort, auf dem direkten Weg ins Armenhaus! Das kannst du doch nicht ernstlich wollen?« Vergeblich suchte sie, einen Blick aus den mit seinen überlangen schwarzen Wimpern so feminin wirkenden Augen festzuhalten. »Wir sind doch Freunde, Alastair, du hast versprochen, immer für mich einzustehen, damals, draußen auf den Klippen – weißt du nicht mehr?«
    Sie waren noch Kinder gewesen, als sie dem blassen, zarten Jungen am Strand begegnet war, zwei Jahre älter als sie selbst, dessen Kopf zu groß schien für den schmächtigen Körper, der fast erdrückt wurde von der Schwere seines blauschwarzen Haares. Sensibel und schwermütig von Natur, war er der geborene Außenseiter – etwas, was sie beide gemeinsam hatten, so verschieden sie auch sonst sein mochten. Eine richtige Freundschaft war zwischen ihnen nie gewachsen; es war mehr eine gegenseitige Duldung gewesen, verbunden in beiderseitiger Einsamkeit. Endlose Ritte durch meerbespülten Sand und schweigsame Stunden auf den Klippen füllten ihre Tage in Alastairs Ferien, bevor er nach Eton und später nach Oxford zurückkehrte und Helena einsamer zurückließ als zuvor. Im Frühsommer, nach seinem letzten Studienjahr, war er endgültig nach Cornwall zurückgekehrt, um sich auf seine Pflichten als künftiger Grundherr vorzubereiten. Doch etwas hatte sich seither zwischen ihnen verändert. Immer wieder hatte er Helena verstohlen gemustert, dann ohne Umschweife angestarrt und mit einer spürbaren Gier jede ihrer Bewegungen beobachtet; schließlich begannen die ungeschickten Umarmungen, die feuchten, nervösen Küsse, die unbeholfenen und unwissend groben Versuche, ihr an die Brust und unter die Röcke zu fassen. Halb zornig, halb lachend hatte sie diese Annäherungsversuche abgewehrt, ihn oft genug aber auch gewähren lassen, weil sie glaubte, dass es zum Erwachsenwerden dazugehörte; vor allem aber auch, weil sie Alastair nicht verlieren wollte, den einzigen Freund, den sie hatte.
    Schweigend starrte der junge Claydon an ihr vorbei auf den steinigen Untergrund des Hofs. Helena begriff und löste ihre Hand aus dem kieselgrauen Tweed seines Rocks.
    »Du willst mir nicht helfen«, sagte sie leise und bitter, »weil ich dir nicht gut genug bin.«
    Heiße Scham durchströmte sie für das, was sie so gutgläubig mit sich hatte geschehen lassen, sie fühlte sich benutzt und verraten. Sie wirbelte herum, damit er ihre Tränen nicht sah, und schwang sich auf Achilles, der geduldig neben den Stallungen wartend ein paar magere Halme aus dem steinigen Grund gezupft hatte.
    »Helena, versteh mich doch – «
    »Ich verstehe dich sehr gut, glaub mir«, rief sie ihm über die Schulter hinweg zu, als sie hastig das Pferd wendete, »und ich werde dich nicht wieder behelligen, das verspreche ich dir!« Sie jagte davon, als sei der Teufel selbst ihr auf den Fersen. Müde hob Alastair den Kopf zu den oberen Stockwerken des Herrenhauses und verspürte fast so etwas wie Hass.
    Am Fenster des Musikzimmers, den Vorhang leicht beiseite geschoben, stand Ian Neville und nickte ihm kaum merklich zu.

4
      E ine gelähmte Stille lag über dem Haus. Leicht war das Leben darin nie gewesen, das konnte man aus den versteinerten Sorgenfalten der rissigen Mauern herauslesen, doch nun schien es starr die nicht mehr abzuwendende Katastrophe zu

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