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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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erwarten, und das hektische Ticken der Uhren, einem rasenden, flachen Herzschlag gleich, verriet die Angst, die darin Einzug gehalten hatte.
    Mit einem wehen Gefühl im Herzen sah Margaret zu, wie Jason im klebrig grauen Nebel draußen mit einem Ast zwischen den Steinen herumstocherte, auf der Suche nach einem Wurm oder Käfer, mit dem er sich die Langweile vertreiben konnte. Auf den ersten Blick wirkte er wie jeder andere Elfjährige aus dem Dorf, in geflickten, angeschmutzten Hosen, mit wirrem Blondhaar und Schrammen im Gesicht und an den Ellbogen, doch wer ihn länger beobachtete, dem entging nicht die traurige Ernsthaftigkeit, die ihn älter wirken ließ. Er schien die Melancholie seines Vaters geerbt zu haben, aber vielleicht war es auch die schattenhafte Erinnerung an die stundenlangen mörderischen Wehen, an den Schwall von Blut, der ihn in diese Welt gespült hatte, und wie sein erster Atemzug mit dem letzten seiner Mutter zusammenfiel. Er hatte kaum geweint nach dem Tod seines Vaters, schien mehr verwirrt als traurig, und gerade das bedrückte Margaret.
    Noch nach all der Zeit schmerzte es sie, dass sie Celia so früh hatte gehen lassen müssen – sie waren mehr gewesen als Kinderfrau und Zögling, fast wie Mutter und Tochter. Sie hatte Celia von ihren ersten unsicheren Schritten bis zu ihrer letzten Stunde begleitet. Und so schien der Schmerz umso größer, dass sie Celias beiden Kindern nicht mehr hatte helfen können in dieser Welt, die ihnen so missgünstig gesonnen war.
    Sie wandte sich vom Fenster ab, Helena zu, die sich auf einem der Sessel zusammengekauert hatte, den Blick ins Leere gerichtet. Immer hatte das Mädchen auf sie gewirkt, als stünde sie unter einer zu großen Anspannung, wie eine überdehnte Feder, die bei der kleinsten Berührung zurückschnappen konnte. Wie gebrochen erschien sie heute, als sei das Band der Feder zersprungen. Sie wusste, Helena warf sich vor, das drohende Unheil nicht abgewendet haben zu können, wenn sie ihr auch oft genug versicherte, dass sie alles in ihrer Macht Stehende getan hatte, und Helena trug ihr vermeintliches Versagen schwer. Margarets Herz zog sich zusammen, wenn sie sich vorstellte, wie sich Helena würde ducken müssen im Haus ihrer Tante, wie sie verwelken würde wie eine Rose, die man in tote Erde umpflanzte. Man hätte sie nie aus Griechenland fortbringen dürfen, das war ihre Überzeugung. Helena war ein Kind der Sonne, hatte es damals so eilig gehabt, das gleißende Sommerlicht Athens zu erblicken, dass Celia kaum gelitten hatte unter den kurzen Wehen. Mit der Kälte Cornwalls verschwand das Strahlen, das Helena immer ausgezeichnet hatte, und Margaret befürchtete, dass es nie wieder zurückkehren würde.
    Ihre Koffer standen gepackt in der Diele; sie warteten nur auf die Ankunft des Vollstreckungsbeamten, um ihm World’s End zu übergeben und dann ihren Weg in das Haus von Archibald Ross anzutreten – über den Dienstboteneingang, wie zu vermuten war, wie es sich für arme Verwandte gehörte, die für die Sünden ihrer Eltern bezahlten und ein Loblied auf den Großmut und die christliche Nächstenliebe ihrer Retter anzustimmen hatten. Margaret hätte in diesem Augenblick mit Freuden einen Arm oder ein Bein hergegeben, wenn sie so ihre Schützlinge vor diesem Schicksal hätte bewahren können, doch sie bezweifelte, dass selbst der Herr in Seiner Güte dieses Opfer angenommen hätte.
    »Willst du es nicht doch noch überdenken?«, fragte sie behutsam in die schwermütige Stille hinein.
    Langsam, wie in Trance, und doch voller Trotz schüttelte Helena den Kopf. »Ich habe Nein gesagt, und ich meine Nein«, sagte sie mit rauer Stimme. »Ich verkaufe mich nicht an diesen Teufel.«
    Margaret schwieg und senkte ihren Blick. Helena war nie ein fügsames Kind gewesen, dazu hatte man ihr zu viele Freiheiten gelassen, aber bei allem Temperament und Eigensinn hatte sie nie zu Trotz und Wutanfällen geneigt. Doch die auffahrende Halsstarrigkeit, mit der sie Margaret in den vergangenen drei Tagen verboten hatte, den Namen Ian Nevilles in ihrer Gegenwart zu erwähnen, erinnerte an den blinden Zorn einer Furie, der sich noch steigerte, je enger sich die Schlinge um sie zog. Es war Margaret ein Rätsel, mit welcher Zielstrebigkeit dieser Mann alles unternahm, um ihren Ruin zu besiegeln; Zug um Zug hatte er ihnen jede Tür verschlossen, die ihnen doch noch einen Ausweg aus ihrer Bedrängnis hätte bieten können, und nun rann die Zeit, die ihnen in World’s

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