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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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als wollte er in der Dunkelheit aus ihrem Gesicht herauslesen, was sie bewegte.
    »Du hast ihn doch lieb, oder? Sonst würdest du ihn doch nicht heiraten?«
    Wut und Traurigkeit ballten sich hinter Helenas Brustbein zusammen, drückten schmerzhaft auf ihren Magen, ließen Tränen in ihren Augen aufsteigen, die sie zurückzuhalten suchte. Es war eine ohnmächtige Wut auf das Schicksal, auf Ian Neville, der ihr diese Ehe aufgezwungen hatte und dem sie sich ausgeliefert hatte. Sie holte tief Luft, bemüht, echt zu klingen.
    »Ja, Jason, ich habe ihn lieb.«
    Zufrieden schmiegte sich Jason wieder an sie und atmete tief durch.
    »Das ist gut«, murmelte er, leiser werdend. »Ich freue mich auf Indien.« Helena spürte, wie sich sein warmer Kinderkörper entspannte, schwerer wurde in ihrem Arm, seine Atemzüge gleichmäßiger und tiefer wurden und er allmählich in den Schlaf hinüberglitt. Endlich konnte sie, wenn auch nur stumm, ihren Tränen freien Lauf lassen. Sie wusste, sie hatte das Richtige getan, und doch empfand sie keine Erleichterung, nur unbändigen Zorn und Schmerz, und sie verfluchte Ian Neville aus dem tiefsten Grund ihrer Seele.

5
      G edämpft drangen lautes, sich überschlagendes Lachen und leichte, dennoch polternde Schritte in Helenas Bewusstsein, Schritte, die schnell näher kamen, eine Frauenstimme, die einen Namen rief, energisch klingen wollend und doch schwach wirkend, dann flog eine Tür auf, und jemand warf sich mit Wucht auf sie, rüttelte und zerrte an ihr.
    »Nela, Nela, steh doch endlich auf, du hast jetzt lange genug geschlafen! Unten wartet ein herrliches Frühstück auf uns, weiche weiße Brötchen mit Butter und gelber Marmelade und Rührei und dicke Schokolade zum Trinken! Komm schon, Nela, aufstehen!«
    Nur mühsam konnte Helena die Augen öffnen, als hielte sie etwas Machtvolles in der Schwärze des Schlafes zurück. Jason lag zappelnd quer über ihr, überschüttete sie mit einem Begeisterungssturm, doch kaum mehr als einzelne Wortfetzen erreichten sie davon. Ein Gefühl der Fremdheit beschlich sie, bis sie gewahr wurde, dass es sein Aussehen war, das diese Wirkung auf sie hatte. In der eleganten, hellbraunen Hose, eng geschnitten, unter deren Saum glänzend geputzte Schuhe hervorblitzten, dem feingestreiften Hemd, sein widerspenstiges Haar sorgfältig gebürstet und geglättet, sah er aus wie ein kleiner Gentleman. Ihr schlaftrunkener Blick wanderte weiter, über ihr Nachthemd aus zartem Batist, das ausladende Bett aus schimmerndem, fast schwarzem Holz, die Kissen und Decken, kunstvoll von Volants umsäumt, den Betthimmel darüber mit dem Rosenmuster, das sich auf der Wandbespannung fortsetzte. Ein eleganter Frisiertisch am anderen weit entfernten Ende des Raumes mit einem dreiteiligen Spiegel, ein kleiner Tisch mit geschwungenen Beinen, auf dem eine Kristallvase mit einem üppigen Bukett verschiedenfarbiger Rosen prangte. Rosen, im November …
    »… Ian meinte, fürs Erste tun es fertige Kleider, aber natürlich bekommen wir in den nächsten Tagen alles handgenäht, wie es sich gehört! Vor allem du, wunderschöne Kleider musst du haben, hat Ian in den Läden gesagt!«
    Ian … Einzelne Bilder und Szenen, statisch und sepiabraun wie Daguerreotypien, tauchten vor ihrem inneren Auge auf – das düstere Kirchenschiff von St. Stephen’s, die feierliche, an manchen Stellen hörbar bewegte Stimme von Pastor Clucas, Neville neben ihr, wie er einen schmalen Goldreif über ihren linken Ringfinger schob, seine Lippen flüchtig auf den ihren, kaum mehr als ein Lufthauch. Dann der Aufbruch aus World’s End, der in seiner Hast so sehr einer Flucht glich. Wie sie sich in der Kutsche, die sie fortbrachte und auf den schlechten Straßen durchschüttelte, stumm und starr an Margaret klammerte, während Jason gegenüber auf seinem Platz hin- und herrutschte und immer wieder begeistert kommentierte, was er durch das Fenster hindurch sah, die tiefe Stimme Mohan Tajids neben ihm, die zustimmte, erklärte, leise lachte. Der Bahnhof in Exeter aus Stein und Glas, unerträglich laut nach der Stille Cornwalls, das eiserne, zischend heißen Dampf ausstoßende Ungetüm, das sie in einem gepolsterten und holzgetäfelten Wagen in die Nacht hineintrug. Und irgendwann nur noch diese wohltuende Schwärze des Schlafes, in der sie nichts mehr berühren konnte. Sie betastete den Ring an ihrer Hand, der sich so hart und kalt anfühlte. Ein Fangeisen.
    »Guten Morgen, Helena.«
    Die Vertrautheit von Margarets

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