Himmel über Darjeeling
Erscheinung, unverändert in ihrem Trauerkleid, der weiche Ausdruck in ihren Augen, halb Mitgefühl, halb Schuldbewusstsein, ließen Tränen in ihren Augenwinkeln brennen.
»Guten Morgen, Marge. Wie – wie lange habe ich geschlafen?«
»Einen ganzen Tag und eine Nacht lang. Du warst völlig erschöpft, Mr. Tajid musste dich ins Haus tragen.« Margaret zögerte einen Augenblick. »Mr. Neville möchte dich zum Frühstück unten sehen. Zieh das hier über.« Sie hielt Helena einen langen Morgenrock aus hellblauer Seide hin, so vorsichtig, als könnte der hauchdünne Stoff mit den zarten Spitzen in ihren abgearbeiteten Händen Schaden nehmen.
Wie Alice im Wunderland ging sie den Korridor entlang, in dessen taubenblauem Teppich ihre bloßen Füße zu versinken schienen, staunend und eingeschüchtert von der Eleganz dieses Hauses. Alles war in gedämpften Farben gehalten, zartgrau, lichtes Blau, cremeweiß, alle Schattierungen teurer Hölzer. Jedes einzelne Möbelstück war exquisit ausgewählt und stand genau an der richtigen Stelle. Jason jagte vor ihnen die steile Treppe hinab, die ins Erdgeschoss führte. Das Geländer fühlte sich unter ihrer Hand an, als sei es aus dem gleichen Stoff gemacht wie ihr Morgenrock.
Ein Hausmädchen in weißer Haube und Schürze knickste am Fuß der Treppe vor ihr und wies ihr die Richtung. »Bitte hier entlang, Madam. Mr. Neville erwartet Sie im Frühstückszimmer.«
Die große Doppeltür am anderen Ende wies auf einen Garten hinaus, der halb verborgen im morgendlichen Londoner Nebel lag. Ein langgestreckter Tisch, weiß gedeckt, nahm den größten Teil des Raumes ein. Zwischen dem blinkenden und schimmernden Porzellan, Kristall und Silber standen kleine Sträuße weißer Rosen verteilt. Es duftete nach Eiern, Kaffee, Tee und Schokolade, und Helena spürte, wie sich ihr Magen verlangend zusammenzog.
»Guten Morgen, Helena.«
Dass er ihren Vornamen so selbstverständlich benutzte, ließ sie zusammenzucken.
Die Beine in den schmalen hellgrauen Hosen übereinander geschlagen, saß Ian Neville an der Breitseite des Tisches, eine Zeitung in den Händen, und sah sie an. »Ich hoffe, du hast dich von den Strapazen der Reise gut erholt und nimmst mir nicht übel, dass ich schon vorausgeritten bin, aber so konnte ich schneller hier sein, um eure Ankunft vorzubereiten. Selbst ich hätte nicht damit gerechnet, dass ich mit einer Ehefrau und fast einer ganzen Familie im Gepäck aus Cornwall zurückkehren würde.«
Ein Bediensteter in Livree hielt einen Stuhl an der Schmalseite des Tisches bereit, den er unter ihr zurechtrückte, als Helena sich gehorsam darauf niederließ. Ihr gegenüber stopfte sich Jason in wenigen Bissen ein Brötchen in den Mund, das von Marmelade troff.
»Kaffee, Tee oder Schokolade, Madam?«
»Danke, Ralph, Schokolade wird das Richtige sein«, antwortete Neville an Helenas Stelle. »Wir müssen sehen, das Madam zu Kräften kommt.« Er musterte sie prüfend. »Ich dachte mir, dass dir Hellblau nicht stehen wird. Leider gab es nicht viel Auswahl in dieser Qualität. Es passt zu deinen Augen, lässt dich aber zu kalt wirken. Wir werden dir einen Morgenrock anfertigen lassen, vielleicht in einem warmen Türkis- oder Lavendelton.« Als sei solch ein Gespräch das Natürlichste der Welt, vertiefte er sich wieder in die Seiten seiner Zeitung.
Helena nippte an ihrer Tasse. Der Geschmack auf ihrer Zunge war köstlich, dunkel und süß und schmelzend, doch in ihrer Kehle wurde er zu etwas Bitterem, Staubigem, das sie kaum hinunterbrachte.
Das Rascheln, mit dem Neville die Zeitung zusammenfaltete, ließ sie auffahren. Er warf einen kurzen Blick auf die silberne Uhr, die er aus einer Tasche seiner mit lebhaften Blumen gemusterten Weste holte. An jedem anderen Mann hätten die bunten Farben lächerlich gewirkt; bei ihm betonten sie nur noch seine Eleganz und Geschmackssicherheit.
»Du entschuldigst mich, aber die Geschäfte rufen. Warte nicht mit dem Dinner auf mich, es kann spät werden.«
Raschen Schrittes verließ er das Zimmer, und in Helena kroch trotz der Wärme, die das im Kamin prasselnde Feuer verbreitete, eine entsetzliche Kälte empor. So wird es von nun an immer sein , dachte sie verzweifelt, und ein Gefühl des Grauens schlug über ihr zusammen, jeden einzelnen Morgen, solange ich lebe.
Müde saß Helena in ihrem hochgeschlossenen Nachthemd auf dem gepolsterten Hocker vor dem Toilettentisch, während Margaret zärtlich die silberne Bürste durch das strohige
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