Himmel über Darjeeling
ihr Tempo verlangsamt hatte, doch mit zusammengebissenen Zähnen kletterte sie weiter hoch, bis die Stufen plötzlich endeten, und der freie Raum, der sich vor ihr öffnete, ließ sie keuchend durchatmen.
Alles schimmerte in weißem Marmor, der glatt polierte Boden, die kannelierten Säulen, auf denen geschwungene Bögen ruhten. Ein großer, quadratischer Raum – leer. Helena wanderte von einem Bogen zum anderen, die mit einem Muster aus Sternen vergittert waren, eine quadratische Öffnung auf Augenhöhe jeweils in der Mitte. Es musste der höchste Turm des Palastes sein, denn auf der einen Seite konnte Helena auf die labyrinthartige Weitläufigkeit der Dächer und Zinnen hinuntersehen, hier und dort einen Blick auf einen Winkel eines der zahlreichen Innenhöfe erhaschen, während sich auf der gegenüberliegenden Seite die Weite der Wüste Rajputanas erstreckte, unfassbar groß und leer, fast schmerzhaft für die Augen unter dem endlosen blauen Himmel. Für einen Wachtturm war er zu umständlich zu erreichen, zu weitab von den wichtigen Räumen des Palastes, zu reich ausgeschmückt – doch wozu diente dieser Turm? Als sollte jemand vom Rest des Palastes ausgeschlossen werden, verbannt aus dem Leben des Hauses , ging es ihr durch den Sinn, und schmerzhaft ballte sich etwas hinter ihrem Brustbein zusammen. Eine unerklärliche, gewaltige Traurigkeit durchflutete sie, größer als alles, was sie bislang an Schmerz erfahren hatte; umso befremdlicher, als sie genau wusste, dass diese Traurigkeit nicht zu ihr gehörte, und dennoch fühlte sie sie, als sei es ihre eigene. Ein bleiernes Gewicht legte sich auf ihre Schultern, zwang sie unbarmherzig in die Knie. Der halb aufgegessene Apfel glitt ihr aus den kraftlosen Fingern, schlug dumpf auf dem Steinboden auf, kullerte davon. Oh Gott , was geschieht mit mir … Durch Tränen hindurch starrte sie auf den Boden, der an dieser Stelle blank wirkte, wie abgenutzt – als wäre jemand Tage, Wochen, Monate immer wieder mit müden Schritten darüber gegangen … Blass und verschwommen sah sie ihr Spiegelbild in den glatten Steinen, den entsetzten Ausdruck in ihren Augen, als es von einem anderen Gesicht überlagert wurde, von den zarten, weichen Zügen einer jungen Inderin, verzerrt zuerst, wie in einem unruhigen Gewässer, dann klarer. Ihre Haut war hell, fast weiß, die großen, mandelfömigen Augen noch dunkler dagegen. Wie schwarzes Wasser umfloss ihr langes, dichtes Haar das schmale Gesicht mit den vollen, schön geschwungenen Lippen in einem satten Rosenholzton. Eine Träne rann über ihren hohen Wangenbogen. Sie öffnete leicht die Lippen, als wollte sie sie rufen, dann begann sie mit den Fäusten gegen den Stein zu hämmern, als trennte sie eine dünne Wand aus Glas von Helena. Immer fester schlug sie von der anderen Seite gegen die Oberfläche, und Helena ahnte, dass sie darunter ersticken würde, wenn sie ihr nicht half. Schluchzend begann sie wie eine Wahnsinnige mit den Fingernägeln über den Stein zu kratzen, als könnte sie die junge Frau darunter befreien, fester und fester, aber sie wusste genau, dass es vergeblich war. Weinend brach sie auf dem Boden zusammen, weinte, wie sie noch nie geweint hatte.
Sanft fühlte sie sich bei den Schultern genommen. Es war die Frau, die sie bei ihrer Ankunft im Hof gesehen hatte, die Ian so herzlich begrüßt hatte, und nun neben ihr kniete, sie in die Arme schloss und tröstend hin und her wiegte.
» Aiiii, mujhé bílkul máaluum , ich weiß, ich weiß es, bétii …«, murmelte sie. »Es war schrecklich, so schrecklich …« Als Helenas Schluchzen abebbte, half sie ihr auf, führte sie behutsam in Richtung der Treppe. » Áao , komm, das hier ist kein Platz für dich, du bist noch so voller Leben, du hast nichts verloren im Ánsú Berdj.«
Und den ganzen mühsamen Weg zurück, durch das Labyrinth des Palastes, hallte es in Helena wider: Ánsú Berdj – der Turm der Tränen.
Willenlos ließ sich Helena von den Inderinnen, die sie am Eingang der zenana in Empfang nahmen, in ihr Zimmer bringen, aus dem Sari wickeln und ins Bett stecken. Trotz der Erschöpfung war sie hellwach, und das bedrückte Schweigen, der ungewohnte Ernst in den Mienen der sonst so fröhlichen Frauen beunruhigte sie. Es war, als hätte sie ein Tabu gebrochen, ein gefährliches Geheimnis entdeckt. Das vielstimmige Rascheln von Seide ließ sie aufsehen. Ihre Gastgeberin hatte den Raum betreten, und ihre Dienerinnen verneigten sich respektvoll vor ihr.
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