Himmel über Darjeeling
dass ihre Stute Ians Hengst hinterher wollte, und mit einem kurzen Rucken am Zügel setzte Helena ihm nach, eine unerklärliche Vorfreude im Herzen.
Es war der 27. Dezember, und in Liverpool ging Richard Carter an Bord der Pride of India , Zielort: Kalkutta.
12
S taunend wanderte Helena durch die hohen, weiten Räume, durch die ein warmer Luftzug strich, der nach Sand und Sonne roch, sich mit dem Duft nach Sandelholz und Rosen durchmischte, den die Wände konstant abzugeben schienen. Mit jedem ihrer Schritte gab der tiefblaue Sari, grün und golden bestickt, ein raschelndes Geräusch von sich. Sie konnte sich nicht satt sehen an der Pracht, die sie umgab, auch am dritten Tag noch nicht, und sie war überzeugt, dass selbst Königin Victoria, Gott schütze Ihre Majestät, die Augen übergegangen wären. Böden aus weißem, gelbem und rosafarbenem Marmor, kühl unter den dünnen Ledersohlen ihrer Sandalen, Wände aus den gleichen Materialien, auf denen mäandernde Muster entlangliefen, bemalt mit Pfauen, geschmückten Elefanten, Tigern, ganzen Wäldern und Buketten von Blütenkelchen; Ornamente aus schillernd buntem Glas, die in die Wände eingelassen waren, Deckengewölbe, die wie spiegelbesetzte Baldachine über den Räumen schwebten. Gemälde von bärtigen Kriegern unter juwelengeschmückten Turbanen auf edlen Rössern und ihren Damen in schillernden Saris; von nur spärlich bekleideten Tempeltänzerinnen, deren kaum bedeckte Blößen Helena die Schamesröte ins Gesicht trieben. Kostbar geschnitzte Tische und Schränke, Stühle und dick gepolsterte Sessel, Betten wie dasjenige, das Helena die vergangenen zwei Nächte beherbergt hatte, oft mit Einlegearbeiten, die nur aus Elfenbein, Onyx, Malachit und Silber sein konnten; mächtige Statuen von Gottheiten aus blendend weißem Marmor, Bronze oder dunklem Holz. Ganze Bahnen Seide – in Mohnrot, Amethystblau, Meergrün, Zitronengelb, Kobaltblau –, die von der Decke herabhingen und luftig die Räume teilten oder meterweise die Böden bedeckten, glitzernd bestickte Kissen in Apfelgrün, Pfirsichfarben, Krebsrot, Saphirblau, Safrangelb.
Von weitem hörte sie das Geschwätz und Gelächter von Frauen. Unwillkürlich beschleunigte sie ihre Schritte. Noch immer hatte sie sich nicht daran gewöhnt, fast ständig von fünf oder sechs von ihnen umgeben zu sein, die fortlaufend einen Wortschwall Hindustani, gefärbt mit dem Zungenschlag Rajputanas, über sie ausschütteten. Ihre Zähne leuchteten weiß in den dunklen Gesichtern, wenn sie sie lachend nötigten, mehr von den Datteln und Feigen, dem Reis und scharf gewürzten Gemüsen zu nehmen und bewundernd über Helenas Haut und Haare strichen.
Müde und staubig waren sie vor dem gewaltigen Tor angelangt, das sich wie von Zauberhand öffnete. Menschen strömten ihnen entgegen, lachend, rufend, Männer, Frauen, Kinder. Mit schmerzenden Muskeln ließ sich Helena aus dem Sattel gleiten. Die Farben verschwammen zu einem Wirbel vor ihren Augen, aber sie sah noch klar, dass sich die Menge respektvoll teilte, um eine Inderin durchzulassen, die trotz ihrer kleinen, rundlichen Gestalt majestätisch durch den weiten Hof schritt. Ihr Sari war von einem gedämpften Pflaumenblau, nur von einer schmalen rotgoldenen Borte umrandet; ihr zurückgekämmtes Haar über dem noch immer schönen, gütig wirkenden Gesicht von zahlreichen weißsilbernen Fäden durchzogen. Mit Tränen in den Augen sah sie Ian an, der sich so tief vor ihr verneigte, wie Helena es bei seinem Stolz niemals vermutet hätte, ehe sie ihre Hand mit den schweren Ringen auf seine Wange legte und ihn in die Arme schloss. Dann zerrten auch schon unzählige braune Arme mit klimpernden Reifen an Helena, führten sie durch weitläufige Gemächer in Richtung eines Bettes, und das Letzte, woran Helena sich erinnern konnte, war, dass kühles, weißes Leinen hoch über ihr zusammenschlug, als sie in Richtung der Kissen und Laken stolperte und auf der Stelle einschlief.
Die folgenden zwei Tage verbrachte sie gänzlich in der Obhut der Frauen, mit Bädern und Ölmassagen, Essen und Schlafen. Jasons Lachen, das dann und wann durch die verwinkelten Gänge in die z enana schallte, verriet ihr, dass es ihm gut ging und sie sich um ihn keine Gedanken zu machen brauchte. Salben, Öle und nach Blütenessenzen und Hölzern duftende Tinkturen kühlten ihre von der Sonne verbrannte Haut, machten sie weich und geschmeidig, ließen ihr Haar in seidigen Wellen den Rücken hinabfließen, und jede
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