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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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auch über keinerlei Annehmlichkeiten oder gar Luxus.«
    Helena versuchte, sich Ian als Kind vorzustellen – war er fröhlich gewesen und lebhaft oder eher still, in sich gekehrt? Sie vermochte es nicht zu sagen; es kam ihr fast unmöglich vor, dass der Mann neben ihr jemals Kind gewesen sein sollte, und dieser Gedanke bedrückte sie.
    »Aber wir waren glücklich«, fügte er kaum hörbar hinzu.
    Wie wir damals, auf Kephallinia, fügte Helena in Gedanken hinzu. »Bist du es heute nicht?«
    Ian lachte kurz und trocken auf. »Glück… Ich habe schon lange verlernt, was das ist.«
    Ein warmes, zärtliches, doch zugleich unendlich trauriges Gefühl durchflutete Helena. Wieder spürte sie den Impuls, ihn zu berühren, ihn zu trösten, und gleichzeitig hielt etwas sie davor zurück. Lieben Sie ihn. Das ist das Einzige, was ihn retten kann – und das Einzige, was er fürchtet … Lakshmi Chands Worte kamen ihr in den Sinn. Stieß er sie deshalb immer wieder von sich, kaum dass sie einen Schritt aufeinander zugegangen waren? Verletzte er sie deshalb immer wieder aufs Neue – weil sie ihm zu nahe gekommen war? Vergessen Sie nie, dass Sie die Stärkere sind.
    Vorsichtig streckte sie die Hand aus, fuhr mit gespreizten Fingern durch sein Haar, das in seiner Schwärze nicht zu unterscheiden war von der Nacht, die sie beide umgab. Fast erschrak sie über dessen Seidigkeit wie über ihre Tollkühnheit, hielt unwillkürlich den Atem an. Doch nichts geschah, einen ewig langen Augenblick nicht, bis Ian kaum merklich seinen Kopf gegen ihre Handfläche schmiegte. Sie spürte, wie er es genoss, sich entspannte, als fiele unter ihrer Hand eine Mauer zusammen wie ein Kartenhaus, spürte aber auch den harten Grat seiner Narbe, die jedes Mal aufs Neue ein wehes Gefühl in ihrem Herzen auslöste. Warum konnte sie ihm immer nur im Schutz der Dunkelheit so nahe
sein?
    Das Prasseln des Feuers hinter ihnen drang überdeutlich in ihr Bewusstsein, dann die Rufe der Männer.
    Ian nahm ihre Hand und hauchte einen Kuss auf die Handfläche, der heiß auf ihrer Haut brannte, drückte sie kurz, ehe er sie losließ.
    »Sie suchen nach uns«, sagte er leise, mit belegter Stimme. »Lass uns zurückgehen, ehe unsere Abwesenheit eine Panik auslöst. Dies ist kein Land, um in trauter Zweisamkeit die Nacht draußen zu verbringen.« Das Lächeln, das im Schimmer der Sterne seine Mundwinkel umspielte, die Wärme in seiner Stimme waren neu für Helena und rührten etwas in ihrem Herzen an.
    Er stand auf, sie folgte ihm, und als sie nebeneinander in Richtung des Lichtkreises gingen, den das Feuer um sich zog, fanden sich ihre Hände wie von selbst, wie ohne ihr Zutun, und in Helena keimte Hoffnung auf. Vielleicht wird nun doch noch alles gut – vielleicht ist doch noch nicht alles verloren.
    Die Sonne hatte ihren Zenit bereits überschritten, als die Pferde in einen gemächlichen Schritt fielen, der Zug schließlich anhielt. Helena schreckte aus ihren Gedanken auf. Sie drückte ihrer Stute die Fersen in die Flanken, lenkte sie vorsichtig zwischen den anderen Pferden hindurch, bis sie vorne neben Ian stand. »Was ist passiert?«
    »Wir sind da«, sagte er nur. Ein Leuchten stand auf seinem Gesicht, das die Sonne der letzten Tage dunkler gefärbt hatte, und seine Augen strahlten.
    Helena folgte seinem Blick. Der heiße Wind, der über die Ebene fegte, zerrte an ihrem schweißfeuchten Hemd und ihrem ausgebleichten Haar. Sie standen am Rand eines Felsplateaus, unter dem eine steile Böschung sanft in ein weites Tal auslief. Golden reflektierte der karstige Boden das grelle Licht der Sonne, und aus ihm erhoben sich in der Ferne sandfarbene Mauern und Dächer. Helena blinzelte, glaubte an eine Fata Morgana, doch die Erscheinung verschwand nicht. Selbst auf die Distanz hin konnte sie die Kolonnaden der Säulen erkennen, die geschwungenen Bögen und filigranen Fenstergitter, die feine Ziselierung des Steines der unzähligen Türme und Zinnen, der Erker und Balkone, versteinertes Spitzenwerk über den mächtigen Mauern.
    »Was ist das?«, fragte sie ungläubig, ihrer Stute beruhigend den Hals tätschelnd, die nervös von einem Huf auf den anderen trat.
    »Das? Das ist Surya Mahal!« Mit einem lauten Freudenruf gab Ian seinem Hengst die Sporen, dass er sich wiehernd aufbäumte, und jagte die Böschung hinab.
    Surya – die Sonne , Mahal – der Palast, wiederholte Helena inwendig die Vokabeln, die sie von Mohan Tajid gelernt hatte. Der Palast der Sonne … Sie spürte,

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