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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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Blick über ihre Schulter sah Helena, dass Ian ihr dicht auf den Fersen war, sie eingeholt hatte. Als sei er eins mit seinem Pferd, flog er über den Wüstenboden hinweg, zugleich in konzentrierter Anspannung wie ursprünglicher Wildheit, nutzte diesen winzigen Augenblick an Unachtsamkeit, um nach ihren Zügeln zu greifen. Wiehernd streiften sich Shiva und Shakti, traten fester auf, verlangsamten ihre Schritte, bebend, schnaufend, schweißüberströmt. Ian sprang noch im Ritt aus dem Sattel, zerrte sie von ihrem Pferd herunter.
    »Bist du von allen guten Geistern verlassen?«, herrschte er sie an, schüttelte sie grob, dass sie sich schützend duckte. »Wenn du dir unbedingt den Hals brechen willst, ist das deine Sache – aber ich werde es nicht zulassen, dass du ein solch kostbares Pferd zu Schanden reitest!«
    Ians Finger gruben sich schmerzhaft in ihre Oberarme; vehement schlug und trat sie nach ihm, versuchte vergeblich, sich aus seinem stählernen Griff zu winden. Der Zorn angesichts ihrer Ohnmacht, ihrer körperlichen Unterlegenheit schien sie innerlich zu verbrennen, nahm ihr jegliche Kraft, und sie gab auf. Schwer atmend lag sie an seiner Brust, die sich ebenso schnell hob und senkte, und von einem Augenblick zum nächsten wurde aus der gewaltsamen Umklammerung eine berauschende Nähe, in der sich ihre Lippen wie von selbst in einem stummen Zwiegespräch fanden. Frage und Antwort, Gegenfrage und Erwiderung gaben den rasenden Rhythmus an, dem sie mit allen Sinnen folgten.
    Liebe mich, dachte sie verzweifelt, als er sie mit sich auf den Boden hinabzog und sie sich einander ungeduldig die Kleider vom Leib zerrten, liebe mich, wie du dieses Land liebst – nicht mehr und nicht weniger …

15
    Kalkutta, Februar 1877
      L angsam hob sich der Morgendunst über der Küste, enthüllte das zerklüftete, breite Flussdelta des Ganges, fruchtbares Marschland, von Palmen überschattet, deren Silhouetten schon fast zu erkennen waren. Kleine Dampfschiffe und Segler und winzige Boote hielten respektvollen Abstand vom mächtigen Leib der Pride of India , aus deren hohen Schornsteinen der Dampf der dröhnenden Maschinen quoll, und schaukelten heftig in ihrem schäumenden Kielwasser. Auch wenn auf die Entfernung noch kaum etwas auszumachen war, sah Richard Carter doch scharf gestochene Bilder vor sich: die langgezogene, schnurgerade Steinmauer am Hooghly, dem braunsilbernen, mächtigen Nebenfluss des heiligen Ganges, auf der sich Fort William trotzig erhob. Jenes Fort war die Keimzelle, von der aus sich die Stadt unaufhaltsam ausgedehnt hatte, Symbol der Beharrlichkeit der englischen Herrschaft über den Subkontinent, prächtig und standhaft. Auf klumpigem Gangesschlamm, ohne festen Untergrund, nur wenige Fuß über der Oberfläche des Flusses, breitete sich die zweite Stadt des stolzen britischen Empires aus, das London des Ostens, die Stadt der Paläste – reich durch den Handel in den zahlreichen, betriebsamen Docks, durch den Sitz der Verwaltung des indischen Kolonialreiches, dessen Hauptstadt Kalkutta war, reich an Pracht und Glanz, aber genauso reich an Menschenmassen, an Lärm und Schmutz und Elend: der schlimmste Ort des Universums, wie Robert Clive, der Gouverneur von Bengalen, sie im vorigen Jahrhundert bezeichnet hatte.
    Hinter dem Fort erstreckte sich der Maidan, der große Park der Stadt, Treffpunkt für Flaneure, für Flirts und gesellschaftliche Kontakte, ebenso wie die Rennbahn am Rand des Parks, auf der manch ein Lieutenant seinen gesamten Sold und oft auch noch das Vermögen der Familie verwettet hatte. Die Chowringhee Road, die pulsierende Hauptschlagader der Stadt stand einem Boulevard in einer der europäischen Metropolen in nichts nach. Sie war gesäumt von Luxushotels, teuren Restaurants, Lagerhäusern, Kontoren und exklusiven Clubs, deren große, makellos geputzte Scheiben die Sonne spiegelten; Uhrmacher, Juweliere, Putzmacherinnen, deren geschmackvoll dekorierte Auslagen die zahlungskräftige Kundschaft anlockten. Die St. Paul’s Cathedral mit ihrem quadratischen Turm ragte inmitten der gepflegten, immergrünen Rasenflächen auf, das lange Querschiff zartgieblig, Spitzbögen aus hellgrauem, fast weißem Stein ziseliert. Die ghats , die Treppenanlagen entlang des Hooghly, die der Stadt ihren Namen gaben, zusammen mit den zahlreichen hinduistischen Tempeln, der Göttin Kali geweiht, fleckig vom Blut der geopferten Ziegen und dem jener Männer, die für die Schutzherrin der Stadt ihr Leben ließen, ehe

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