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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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Wesen schaffen‹«, sagte Ian leise, als spräche er zu sich selbst. »Von dem daraus entstandenen Stoff nahm er eine Hand voll und schuf daraus das erste Pferd und sagte: ›Ich nenne dich Pferd. Du bist ein Araber, und ich gebe dir die kastanienbraune Farbe der Ameise. Du sollst König über die anderen Tiere sein.‹ Nach ihm schuf er weitere Pferde, denen er die kohlschwarze Farbe der Raben gab, die rostrote der Füchse und die kreideweiße der Eisbären. Dann ließ er die Herde auseinander stieben, sich über die Erde verteilen. Und bis heute trägt jedes Pferd die Erinnerung an den Südwind in sich, aus dem es geschaffen wurde.« Er sah Helena an und reichte ihr mit einem schwer zu deutenden Lächeln die Zügel.
    »Sie heißt Shakti, nach der lichten Seite von Shivas Gemahlin, dem weiblichen Prinzip. Sie wurde in den Stallungen von Shikhara geboren und hat ihre ersten beiden Sommer auf den Wiesen dort verbracht.« Ians warmer Atem, der über ihre Wange strich, ließ Helena einen Schauder über den Rücken laufen, und hastig stieg sie in den Sattel. Sie hasste ihn dafür, dass er mit wenigen Sätzen, einem Lächeln, seiner Nähe, ihren Zorn dahinschmelzen lassen konnte wie Schnee in der Märzsonne.
    Ein scharfes Wiehern ließ sie sich umdrehen. Ohne erkennbaren Anlass scheute der Hengst, bäumte sich wild auf, und der Junge, der ihn am Zügel führte, duckte sich ängstlich. Entschlossen riss Ian ihm das Zaumzeug aus der Hand, angelte geschickt nach den Steigbügeln und schwang sich auf das bockende Pferd, während sich die Stallknechte aus der Reichweite der Hufe brachten. Der Rappe stieg ein paarmal auf, schüttelte sich unwillig, ehe er sich schnaubend wieder beruhigte, sich gnädig das gute Zureden Ians gefallen lassend.
    »Und er heißt demnach vermutlich Shiva«, bemerkte Helena sarkastisch.
    Ian brach in lautes Lachen aus. »Genauso ist es. Und er ist ein wahrer Teufel, wie du siehst!«
    Genau wie du, dachte Helena mit zusammengezogenen Brauen, und der spöttische Blick, den Ian ihr zuwarf, verriet ihr, dass er ihren Gedanken erraten hatte. Wütend starrte sie ihn an, ehe er mit einem Glitzern in den Augen sein Pferd wendete.
    Helena war erleichtert, als die allgegenwärtigen Wachen das Tor öffneten und sie sich auf die Zügel konzentrieren konnte, darauf, das Tier mit leichtem Schenkeldruck zu lenken. Es erstaunte sie, wie mühelos es war, als ahnte Shakti, was Helena von ihr wollte, noch ehe sie mit dem Zaumzeug diesem Ausdruck verliehen hatte, und doch spürte Helena, dass unter der scheinbaren Ruhe und Sanftheit der Stute ein feuriges Naturell schwelte.
    Das Schlagen der Hufe auf dem glatten Steinboden ging in ein dumpfes Knirschen über, als sie den steinigen Wüstenboden betraten, und augenblicklich fielen die Pferde in einen leichten Trab. Matt hing die morgendliche Wintersonne an einem taubenblauen Himmel. Stille lag über der graugelben, staubigen Erde mit den ausgeblichenen Dornbüschen und den vereinzelten knorrigen Bäumen. Die Luft war kühl, und Helena war nun doch dankbar, dass sie sich von Nazreen den langärmligen Reitrock hatte aufnötigen lassen – sie hatte den Winter in dieser Gegend unterschätzt. So weit das Auge reichte, schien die Landschaft leer und verlassen; nur ein einsamer Bussard, der mit ausgebreiteten Schwingen Kreise über ihnen zog, zeugte von Leben. Wie von selbst zogen Shakti und Shiva im Tempo an, trabten eilig voran, stießen ab und zu ein glückliches Wiehern aus, in das Helena nur zu gerne eingestimmt hätte. Tief sog sie die klare Luft ein, die nach Staub und trockener Erde roch, nach dürrem Laub und Holz.
    Die Sonne stieg rasch höher und wärmte sie. Aus dem Augenwinkel sah Helena, wie Ian aus seinem Rock schlüpfte, immer eine Hand am Zügel. Ihr Blick fiel auf die beiden Pistolen, die er links und rechts in einem Halfter über seinem Hemd trug.
    »Sind die wirklich nötig?«
    »In vielen Teilen des Landes leiden diesen Winter die Menschen Hunger, von Bengalen bis hinauf in den Punjab, weil im vergangenen Jahr zu wenig Regen fiel. Vereinzelt kam es bereits zu Unruhen, unter anderem auch nicht allzu weit von hier entfernt. Ich will kein unnötiges Risiko eingehen, auch wenn sich die Lage etwas entspannt hat – wovon Mohan Tajid und ich uns mit eigenen Augen überzeugen  konnten.« Ein spöttischer Seitenblick streifte Helena. »Ich habe also durchaus Sinnvolleres getan, als mich in anderen Betten herumzutreiben.«
    Helena spürte, wie sie errötete, ebenso

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