Himmel über Darjeeling
ihre Wange, als er ihr in gelassenem Tonfall eine gute Nacht wünschte, ehe er eine wie betäubt vor sich hinstarrende Helena stehen ließ und die Tür von außen leise ins Schloss fiel.
Mit einem Ruck fuhr Helena auf. Ihr Herz raste, und Strähnen ihres Haares klebten an ihren feuchten Wangen. Benommen sah sie sich um. Sie konnte sich nicht erinnern, wie sie in ihr Bett gelangt war, doch der Seitenblick, den sie auf die andere Hälfte warf, auf der die Laken glatt und straff waren, bestätigte ihr, dass sie einmal mehr allein hier geschlafen hatte, rief die Demütigung der vergangenen Nacht in aller Deutlichkeit in ihr Gedächtnis zurück. Zorn mischte sich mit der erschreckten Bedrückung, die sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Nur schemenhaft waren Eindrücke des Traums haften geblieben – wie sie lief und lief, in dem Gefühl einer drohenden Gefahr, die greifbar gewesen und doch nebulös geblieben war und sie dadurch noch mehr ängstigte, und schwach erinnerte sie sich daran, dass sie Ian hatte warnen wollen – doch wovor, das vermochte sie nicht mehr zu sagen. Oder war da jemand gewesen, den sie vor Ian hatte warnen wollen? Sie konnte sich nicht mehr erinnern …
Aufstöhnend ließ sie sich in die Kissen zurückfallen, überließ sich dem elenden Gefühl, das durch ihren ganzen Körper zog. Nur unwillig sah sie auf, als sich die Tür öffnete und eines der Mädchen mit einem Frühstückstablett hereinhuschte, gefolgt von Nazreen, die fein säuberlich gefaltet die Reithosen und das Hemd vor sich hertrug, in denen Helena hier angekommen war.
» Huzoor wünscht mit Ihnen auszureiten, Memsahib«, verkündete sie freudestrahlend auf Helenas fragenden Blick hin.
Zur Hölle mit ihm und seinen Pferden, dachte Helena finster, doch der Gedanke, unter freiem Himmel auf einem Pferderücken zu sitzen, übte einen unwiderstehlichen Zauber auf sie aus und ließ sie nach einem kurzen Kampf mit sich selbst ihren Stolz mit Tee und Obst herunterschlucken.
Und so stiefelte sie wenig später durch den großen Hof hinter dem Eingangstor des Palastes, halb zornig, halb in freudiger Erregung. Ian wartete bereits, leichthin mit einem der Reitknechte plaudernd und scherzend. Noch bevor sie ihn erreicht hatte, wandte er sich um. Die eng anliegenden Reithosen, die in hohen, blank geputzten Stiefeln steckten, und der schmale braune Reitrock, gegen den sich das weiße Hemd grell abhob, betonten seine stolze und doch geschmeidige Haltung; ein leichter Luftzug strich durch sein welliges Haar, und seine finsteren, wilden Gesichtszüge öffneten sich in einem Lächeln. Heißes Verlangen und quälende Sehnsucht schossen durch Helenas Adern. Mit hochmütiger Miene warf sie ihr Haar zurück und schleuderte ihm ein eisiges »Guten Morgen« entgegen, als sie zu ihm
trat.
»Guten Morgen, Helena«, erwiderte er warm und beugte sich vor, um sie zu küssen, doch sie wandte den Kopf rasch zur Seite. Sein Duft, nach Seife und einem herben, dezenten Rasierwasser, hätte sie beinahe schwach werden lassen. Sie sah, wie ein amüsierter Funke in seinen Augen aufblitzte, ehe er hinzufügte: »Hast du gut geschlafen?«
»Ich hoffe, du auch – gleich, in welchem Bett du die restliche Nacht auch verbracht haben magst«, kam ihre frostige Antwort, die sein Lächeln noch vertiefte.
»Oh ja, das habe ich«, entgegnete er vergnügt, und es versetzte Helena einen Stich.
Zwei Reitknechte führten die Pferde in den Hof, und die Schönheit der beiden Tiere, ein schwarzer Hengst und eine schneeweiße Stute, ließ Helena den Atem stocken, lenkte sie für den Moment von ihrem Ärger und ihrer Verletztheit ab. Schlank und feingliedrig, jeder Zoll energiegeladene Muskeln, ähnelten sie so gar nicht den plumpen, gutmütigen Packpferden, die sie hierher gebracht hatten. Die Wölbung der stolz erhobenen Köpfe, die schlanken Gelenke und das schimmernde Fell verrieten das edle Araberblut, das in ihren Adern floss.
»Bist du schön«, murmelte Helena unwillkürlich, als sie der Stute über Stirn und Nüstern strich. Vorsichtig und dennoch zutraulich schaute das Tier Helena aus großen, klugen Augen an, stupste sie freundlich mit dem Kopf. Ian nahm dem Reitknecht das Zaumzeug aus der Hand und fuhr dem Schimmel zärtlich über die Flanken, einen weichen, liebevollen Ausdruck in seinen Augen. Ich wünschte, er würde mich so ansehen …
»In den Geschichten des Emirs Abd-El-Kadr wird erzählt, wie Gott zum Südwind sprach: ›Verdichte dich! Ich will aus dir ein neues
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