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Himmel über Darjeeling

Himmel über Darjeeling

Titel: Himmel über Darjeeling Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: N Vosseler
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die englischen Kolonialherren derlei barbarische Bräuche verboten. Elegante Prachtbauten, Villen, Stadthäuser, dazwischen schmuddelige Ecken und Gassen, Bordelle und Spelunken und bunte Basare, das umtriebige Chinesenviertel und das der Armenier – das war Kalkutta.
    Unwillkürlich umklammerte Richard Carter die Reling. Was hatte ihn nur dazu getrieben, diese Reise zu unternehmen? Er hatte sich geschworen, nie wieder einen Fuß in dieses verfluchte Land zu setzen. Und doch hatte er in seiner Londoner Dependance die letzten Geschäfte getätigt, persönlich wie schriftlich und telegrafisch Anweisungen für die unbestimmte Zeit seiner Abwesenheit erteilt, die Passage gebucht, äußerlich ohne Hast und doch fieberhaft, in einer rastlosen Ungeduld, die ihm sonst so völlig fremd war – weshalb nur?
    Er kannte den Grund, schien er ihm auch noch so irrational, noch so irrwitzig. Es war wenig mehr als ein Moment gewesen, und doch war jedes Detail davon unauslöschlich in sein Gedächtnis und in sein Herz eingebrannt, hatte dort ein Feuer entfacht, das umso heftiger loderte, je mehr Zeit verstrich. Er hatte nichts in der Hand, was ihm die Gewissheit gegeben hätte, dass sie ebenso empfand wie er, und doch hatte es in all den Wochen für ihn kein Zaudern, keinen ernstzunehmenden Zweifel gegeben, keinen Gedanken daran, diese Reise zu verschieben oder gar nicht erst zu unternehmen. Nüchtern betrachtet war es der reine Wahnsinn – sie war verheiratet, Indien ein Land von scheinbar unermesslichen Ausmaßen. Selbst wenn er es einrichten konnte, dass sie sich wiedersahen – wer konnte ihm garantieren, dass er ihr Herz gewann? Es gab keine Garantie; nur das Risiko, alles auf eine Karte zu setzen, zu gewinnen oder aber zu verlieren. Und er wusste, er würde keine Ruhe finden, wenn er es nicht wenigstens versuchte.
    Der Wind frischte auf, fuhr durch sein Haar, schien wie eine zärtliche Berührung aus weiter Ferne, und er schloss die Augen, rief sich ihr Bild in Erinnerung, wie er es in den vergangenen Wochen oft getan hatte – die überschlanke Gestalt in dem auffälligen Kleid, halb noch Kind, halb schon Frau, die blau und grün irisierenden Augen, die ihn an die Opale erinnerten, die er aus Australien importierte, den furchtsamen Ausdruck darin, diese Augen, die ihn bis in den Schlaf verfolgten. Er musste sie wiedersehen, sei es auch nur ein einziges Mal.
    »Huhu, Mr. Carter«, riss ihn eine schrille, gekünstelt lockende Stimme aus seinen Gedanken.
    Mit so schnellen Schritten, wie es ihre stattliche Leibesfülle zuließ, kaum vom Korsett des fast schon hörbar in den Nähten knirschenden schwarzseidenen Kleides zusammengehalten, eilte eine Dame mittleren Alters eifrig winkend auf ihn zu, das runde Gesicht freudig gerötet unter den sorgfältig ondulierten und aufgesteckten Löckchen in einem nichtssagenden Braun, auf denen kess ein schwarzes Hütchen saß. Richard Carter stöhnte unhörbar auf, verbeugte sich aber formvollendet und setzte eine freundliche Miene auf. »Guten Morgen, Mrs. Driscoll. Was zieht Sie schon so früh auf Deck?«
    »Ach«, schnaufte sie, eine Hand in den zu engen schwarzen Handschuhen unter ihren ausladenden Vorbau gepresst, um besser Atem schöpfen zu können, »unter Deck war es die ganze Nacht so stickig, und wir wollten unbedingt die frische Morgenluft genießen. Nicht wahr, Mädchen?« Sie wandte sich halb zu den beiden jungen Mädchen um, die ihr im Abstand von ein paar Schritten gefolgt waren. Die ältere der beiden, Florence, in Gesicht und Figur das Ebenbild ihrer Mutter, sah mit einem verdrießlichen, noch halb verschlafenen Ausdruck starr auf das Meer hinaus, während die jüngere Richard mit einem beseelten Ausdruck in den blauen Augen förmlich verschlang.
    Richard konnte sich eines Anflugs von Belustigung nicht erwehren. Schon kurz nach dem Ablegen des Passagierdampfers, als der Kai noch in Sichtweite war, hatte er erkannt, dass die drei Ladys Driscoll zu der berüchtigten »Fischfangflotte« zu zählen waren: Damen jeglicher Herkunft und jedes Alters, die sich nach Indien aufmachten, um dort einen passenden Ehemann zu finden, möglichst einen der Nabobs, die in der Fremde ihr Glück und ein Vermögen gemacht hatten; aber auch Soldaten jeden Dienstranges und zivile Beamte des Empire waren heiß begehrt. Reihum hatte Mrs. Driscoll sich und ihre Töchter lautstark den Passagieren vorgestellt, mit einem spitzenumsäumten Tüchlein die Augen betupfend, als sie vom plötzlichen

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