Himmel über Darjeeling
war, ein Gespräch in Gang zu bringen, nur keinen Fehler zu machen, um ihrer Mutter nicht mit der Schande gegenübertreten zu müssen, ihre Chance vertan zu haben, und er spürte ein warmes Mitgefühl mit dem Mädchen und der Last, die sie trug.
»Nein.« Es kam ihm so leicht über die Lippen, dass es ihm nicht einmal wie eine Lüge erschien. Denn es war ein anderer Richard gewesen, der in Indien gewesen war, in einem anderen Leben, und mit diesem teilte er nichts mehr, nicht einmal mehr den Namen, als hätte er niemals existiert. Es gab keinen Grund, sich zu fürchten, doch in diesem Augenblick verspürte er so etwas wie Angst.
Und das, was er am meisten fürchtete, war die Erinnerung.
16
G edankenverloren kaute Helena am Ende des Federhalters, ehe sie wütend den halb beschriebenen Bogen zusammenknüllte und ihn achtlos von sich warf, zu den anderen Papierknäueln, die sich auf dem Teppich rund um den Schreibtisch verteilten. Seufzend lehnte sie sich in dem Sessel zurück, dass die türkisblaue Seide ihres Saris leise knisterte, ließ ihren Kopf am glatten, kühlen Leder der Lehne ruhen und starrte in das Zimmer.
Selbst jetzt, am hellen Tag, war es hier dämmrig. Das Sonnenlicht, das durch die hohen Fenster, deren dunkelrote Samtportieren beiseite geschoben waren, hineinfiel, beleuchtete jeweils nur ein kleines, scharf abgegrenztes Rechteck des Bodens darunter. Schemenhaft ließen sich die mit Landschaften und Porträts stolzer Rajputenfürsten bemalten Tableaus erkennen, die zwischen der Holztäfelung und den Bücherschränken in die Wände eingelassen waren. Aus den Schatten modellierten sich die Leiber ausgestopfter Tiere, ein Bussard, ein Panther, dessen geblecktes Gebiss aus der Dunkelheit einer Ecke leuchtete, die Köpfe von Hirschen und Rehen mit ihrem stolzen Geweih, der mächtige Stoßzahn eines Elefanten, der sich von seinem Fundament aus ziselierter Bronze gegen die Decke reckte.
Seit Stunden saß sie hier, begann immer wieder aufs Neue den längst überfälligen Brief an Margaret, den ersten seit ihrer knappen Notiz aus Bombay über ihre wohlbehaltene Ankunft, und verwarf ihn wieder. Dabei gab es so viel zu erzählen, so vieles, was sie gesehen hatte in den vergangenen Wochen. Ihre Reise mit der Eisenbahn und zu Pferd, der Palast; die Ausritte an Ians Seite, oft in Begleitung von Mohan Tajid und Jason, während deren sie die Umgebung erkundet hatte. Von den chattris , marmornen Baldachinen um die Stelle, an der die toten Rajputenfürsten in einer feierlichen Zeremonie verbrannt worden waren, und den in roter Farbe auf dem Stein verewigten Handabdrücken ihrer Ranis, die ihnen gefolgt waren, indem sie nach dem Brauch des sati den Scheiterhaufen bestiegen hatten, um im Tod mit ihnen wieder vereint zu sein, gereinigt und geheiligt durch die Flammen, die ihnen ein ehrloses Dasein als Witwe ersparten, über das Verbot durch die Engländer vor fünfzig Jahren hinaus. Von den Dörfern, die sie besucht hatten, der Freundlichkeit der Menschen, die auf sie zukamen, sie baten, mit ihnen ihre chapatis und ihren Reis zu teilen, ihnen Geschenke – bunte Saris, bemalte Krüge, gehämmerte silberne Armreifen, kunstvoll bestickte Sandalen und Slipper aus samtweichem Leder – mit auf den Weg gaben. Kaum glaubhaft, dass die tote Erde rund um die weit verstreuten Dörfer, zu anderen Jahreszeiten einem Meer aus Getreidehalmen ähnelnd, genug Weideland für die Aberhunderte von Schafen und Ziegen bieten sollte, die blökend und meckernd in den großzügigen Pferchen standen und gelassen durch die öde Gegend blickten; dass sich unter der harten Kruste des Bodens Silber und Smaragde, Eisen und Zink verbargen. Und doch schienen die Menschen im direkten Umkreis des Palastes keinen Hunger, keine materielle Not zu leiden, baten Ian und Mohan höchstens um Rat bei Familienstreitigkeiten oder der unklaren Rechtslage eines Geschäftes.
Mohan Tajid erzählte die jahrhundertealte Geschichte der Rajputen, von ihren Anfängen im sechsten und siebten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung, als sie die Herrschaft über die Steppen, Wälder und Wüsten beiderseits des Aravalli-Gebirges übernahmen. Sie erhoben Steuern von den Bauern, Händlern und Handwerkern und garantierten ihnen dafür den Schutz ihrer Schwerter. Woher sie gekommen waren – darüber stritten sich die Gelehrten. Um keinerlei Zweifel an der Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft aufkommen zu lassen, nannten sie sich Rajputen, Königssöhne , und schrieben sich
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