Himmel über Darjeeling
Dahinscheiden ihres geliebten Hartley berichtete, dessen Ersparnisse, dem Herrn sei Dank, es ihnen nun ermöglichten, eine entfernte Cousine in Kalkutta zu besuchen, die mit einem Missionar verheiratet war, welcher im Schweiße seines Angesichts den Wilden das Evangelium nahe brachte.
»Besonders meiner kleinen Daisy bekommt die Luft dort unten nicht.« Mütterlich tätschelte Mrs. Driscoll den Arm ihrer jüngeren Tochter: »Sie ist ja so schrecklich zart!« Das war, wie Richard fand, stark übertrieben, wenn er auch zugeben musste, dass die drallen Rundungen, die der steife schwarze Stoff erahnen ließ, nicht eines gewissen Reizes entbehrten, ebenso wenig wie das runde Puppengesicht mit der Stupsnase, dem Knospenmund und der frischen, rosigen Haut, von einem Schwall glänzender goldblonder Locken unter dem kecken Kapotthütchen umrahmt.
Ihre wasserblauen Äuglein aufmerksam zwischen den beiden hin- und herhuschen lassend, missdeutete Mrs. Driscoll um Haaresbreite die Aufmerksamkeit, die der amerikanische Gentleman ihrer Tochter angedeihen ließ. Der großgewachsene Passagier war ihr gleich aufgefallen, nicht zuletzt, weil er stets für sich blieb und mit den anderen Reisenden einen freundlichen, wenn auch unverbindlichen Umgang pflegte. Doch alle listenreichen Versuche Mrs. Driscolls, das Augenmerk dieses ebenso sympathischen wie offenbar vermögenden und dabei in seinem schlichten Auftreten vertrauenswürdigen Mannes auf die Vorzüge ihrer Daisy zu lenken, waren zum Scheitern verurteilt, nicht zuletzt durch seine Zurückgezogenheit wie auch eine gewisse Tendenz zur Geistesabwesenheit, die, wie sich Mrs. Driscoll dachte, bei einem Mann von solch offensichtlicher Wichtigkeit nur natürlich waren.
Die Pfundnoten, die sie einem aufmerksamen Steward verstohlen zugeschoben hatte, förderten auch nicht mehr zutage als das, was der Klatsch an Bord ihr zugetragen hatte: dass dieser Mr. Carter allein erster Klasse reiste, keinen Ring trug, dafür aber Anzüge von ebenso ausgesuchter wie schlichter Qualität, und keinerlei private, an einen weiblichen Adressaten gerichtete Briefe schrieb.
Erst am vergangenen Abend, als sie im Salon der zweiten Klasse mit Harriet und Joseph Barnes beisammensaß, einem netten älteren Ehepaar, die zur Hochzeit ihres Sohnes, eines Lieutenants mit hervorragenden Aufstiegschancen, nach Delhi reisten, und sie wieder einmal lauthals von dem bescheidenen, distinguierten und so in sich ruhenden Amerikaner geschwärmt hatte, hatte Mr. Barnes, Textilgroßhändler im Ruhestand aus den Midlands, plötzlich die Ausgabe der London Illustrated News sinken lassen und sie stirnrunzelnd durch seine runden Brillengläser angesehen.
»Sagten Sie eben Carter ? Doch nicht etwa der Mr. Carter?« Seine kurze Ausführung zu Carter Industries and Finance, New York, San Francisco, London, ein Emporium, das Spinnereien, Webereien, Edelsteinschleifereien, Eisen- und Stahlwerke, Bau- und Investmentfirmen unter seinem Dach zusammenfasste, ließ Mrs. Driscoll nach Luft schnappen und nach Florence und dem Riechsalz rufen.
Mit dem Mut der Verzweiflung hatte sie beschlossen, alles auf eine Karte zu setzen, ehe die Pride of India in Kalkutta anlegte und sich ihre Wege trennen würden. Eine Hand voll weiterer Pfundnoten, geschickt verteilt, hatte zum Ergebnis gehabt, dass sie sich in aller Herrgottsfrühe ächzend aus ihrer Koje wuchtete und ihre Mädchen aufscheuchte, um die Gunst der frühen Morgenstunde gewinnbringend zu nutzen.
Der Moment war mehr als günstig, und so griff sie energisch nach der Hand ihrer älteren Tochter und packte das Schicksal beim Schopf.
»Florence, mein Kreislauf … Sie entschuldigen uns doch sicher, Mr. Carter, aber ich brauche sofort eine Tasse Tee, ehe mir wieder schwarz vor Augen wird. Bei Ihnen wird meine kleine Daisy doch gewiss in guten Händen sein, nicht wahr?«
Amüsiert sah Richard ihr nach, wie sie gleich einem Schlachtschiff auf unruhiger See davonschlingerte, eine muffig blickende Florence im Schlepptau, ehe er sich der ihm gleichsam auf dem Silbertablett dargebotenen Daisy zuwandte, die in gebührlichem Abstand neben ihn getreten war.
Ihre kleinen Hände in den schwarzen Häkelhandschuhen krampften sich um die Reling, und die Satinbänder ihres Hutes flatterten im Wind.
»Waren – waren Sie schon einmal in Indien, Mr. Carter?« Ihre Augenlider flatterten, und die volle Unterlippe zitterte leicht, als sie ihn ansprach, ohne ihn direkt anzusehen. Er spürte, wie sie bemüht
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