Himmel über Darjeeling
beschämt wie verärgert. Sie runzelte die Stirn.
»Was hast du damit zu tun? Ist das nicht die Aufgabe der englischen Regierung?«
»Gewiss«, Ians Gesicht zeigte bitteren Ernst, »nur dass den englischen Kolonialherren das Wohl der indischen Bevölkerung nicht allzu sehr am Herzen zu liegen scheint – es gibt ja genug Nigger «, er spie das Wort beinahe aus, »Millionen davon, und ob nun Zehntausende an Hunger sterben, an der Cholera, Malaria oder der Ruhr – wen schert das schon? Und je weniger es davon gibt, desto leichter ist das Land unter Kontrolle zu halten. Die Stabilität und Dauerhaftigkeit der englischen Herrschaft hier ist reine Fassade, geschmückt von Orden und goldenen Litzen, eine Illusion. Die Soldaten und Beamten der Krone werden nie begreifen, dass Indien ein wildes, unbezähmbares Land ist, das man nur entweder lieben oder hassen kann – aber niemals beherrschen.« Es kam Helena so vor, als bebte Ian vor tief sitzendem Hass auf ihrer beider Landsleute, und die Eiseskälte dieses Hasses verursachte ihr eine Gänsehaut.
»Was das Land und seine Menschen an Reichtum bergen«, fuhr er fort, »in Form von Jute und Baumwolle, Tee und Ölsaaten, an Leder, Getreide und nicht zuletzt an Steuern, wird in Paraden, Bällen und Herrenhäusern investiert oder fließt nach Europa – nicht in Hilfsgüter oder den Ausbau des Eisenbahnnetzes in entlegene Gegenden, fernab von den militärisch oder wirtschaftlich wichtigen Punkten auf der Landkarte. Außerdem gilt für die Engländer das Prinzip des laissez faire – es wird sich schon alles regeln. Zum Wohle der britischen Krone natürlich.« Er runzelte die Stirn, halb zornig, halb nachdenklich. »Nein, es sind meine Leute, und ich bin für sie verantwortlich. Letztlich«, seine Lippen kräuselten sich ironisch, als er einen scheinbar leichten Tonfall anschlug, in dem aber eine gewisse Schärfe mitschwang, »muss ich auch ganz einfach dafür Sorge tragen, euch sicher bis nach Darjeeling zu bringen. Hungrige Menschen sind bösartiger und unberechenbarer als mordlustige Tiger. Ich habe keine Lust, auf dem Weg dorthin marodierenden Banden in die Hände zu fallen.«
»Wie auf der Fahrt nach Jaipur?«
Ian schien ihren bohrenden Blick nicht zu bemerken, reagierte nicht auf die Bissigkeit, in der sie ihre Worte vorgebracht hatte, sondern blickte unbeirrt geradeaus auf die weite Fläche aus Stein und Erde vor ihnen. Ein Wüstenfuchs blickte von einer Anhöhe neugierig auf die beiden vorbeiziehenden Reiter hinab, ehe er sich wieder auf leichten Pfoten trollte.
»Das braucht dich nicht weiter zu kümmern.«
»Das tut es aber!«, rief sie heftig. »Schließlich kann es mich durchaus auch betreffen, mich und Jason, wie wir gesehen haben!« Unwillkürlich hatte sie die Zügel straff gezogen, und Shakti verlangsamte ihren Schritt, blieb schließlich stehen.
Ian ließ Shiva ebenfalls halten und sah Helena unverwandt an.
»Glaub mir – du und Jason, ihr wart zu keinem Zeitpunkt in Gefahr und werdet es auch nicht sein. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Ihre Augen schmal vor Konzentration, sah sie ihn an. Sie hätte nicht sagen können, was an ihm es war, das diesen ahnungsvollen Funken in ihr zündete, aber aus einer Eingebung heraus schleuderte sie ihm entgegen: »Was verbirgst du vor mir?«
Sie glaubte, ein feines Zucken um seine Mundwinkel gesehen zu haben. Er senkte nachdenklich den Blick, ehe er sie wieder ansah und den Kopf schüttelte, einen harten Zug im Gesicht.
»Nein, Helena, es gibt Wissen, das zur Gefahr werden kann. Ich gehe meinen Weg, und ich werde ihn alleine gehen.«
»Du vergisst, dass du mich gegen meinen Willen zu einem Teil deines Lebens gemacht hast!«
Ian stützte sich bequem mit dem Unterarm auf den Sattelknauf und nickte bedächtig.
»Ich weiß. Und glaub mir, es gab seither etliche Momente, in denen ich es bereut habe.«
Seine Worte trafen sie zutiefst; in blinder Wut und Schmerz riss sie Shakti an den Zügeln herum und bohrte ihr die Absätze in die Flanken, dass die Stute empört wiehernd emporstieg, ein paar Sätze machte, ehe sie mit Helena in einem wilden Galopp davonjagte.
Der kalte Wind biss Helena ins Gesicht, trieb ihr Tränen in die Augen, die sie eisern hinunterkämpfte; Hufe donnerten über den Boden, Fontänen von Staub und Steinen aufwirbelnd, hinunterprasselnd; keuchend ging ihr Atem, vermengte sich mit dem Schnauben des schäumenden Pferdes. Das Dröhnen der fliegenden Hufe verdoppelte sich, und mit einem raschen
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