Himmel über Darjeeling
sein Gesicht, wie das eines Menschen, der sich an die Langeweile eines materiell gesicherten Lebens gewöhnt hat und der nun die Gelegenheit bekommt, einen anekdotischen Blick auf eine in den trüben Farben der Armut colorierte Szenerie zu werfen. Zorn und Scham vertieften die Röte auf Helenas Wangen, und finster erwiderte sie seinen Blick. Sein Mund unter dem Oberlippenbart verzog sich zu einem Lächeln, halb scherzhaft, halb spöttisch.
»Ich war mir sicher, bereits alle Dorfschönheiten in dieser Einöde zu Gesicht bekommen zu haben, aber Sie scheinen sich bislang vor mir versteckt gehalten zu haben.«
Margarets Warnungen kamen ihr in den Sinn, mit denen sie vergeblich versucht hatte, Helena von ihren Ritten am verlassenen Strand abzubringen, von unmoralischen Männern, die jungen Mädchen wie ihr auflauerten, um ihnen unaussprechliches Leid anzutun. Sie hatte diese Worte bislang mit einem unbekümmerten Lachen abgetan. Ohne sich zu bewegen, als gäbe es eine telepathische Verbindung zwischen ihm und seinem Pferd, ließ der Fremde es einen großen Schritt vorwärts machen, auf Helena zu, so dicht, dass sie den Geruch des Rappen wahrnehmen konnte und Achilles gelähmt vor Schreck seine Hufe in den Sand drückte. In einem Reflex holte sie mit ihrer Gerte aus und konnte im nächsten Augenblick nur mühsam einen Schmerzenslaut unterdrücken, als der Fremde sie in ihrer Bewegung hart am Handgelenk packte, so schnell, dass er sich gar nicht gerührt zu haben schien, und so fest, dass sie beinahe aus dem Sattel glitt.
»Vorsicht, Miss«, sagte er kalt, »ich habe bereits einen Schmiss im Gesicht – ich brauche keinen zweiten.«
Erst jetzt bemerkte Helena die Narbe, die quer über seine linke Wange lief. Einmal mehr errötete sie und fühlte sich beschämt und verlegen, unsicher, wie sie reagieren sollte.
»Ich kann Sie beruhigen«, fuhr er besänftigend fort, ohne jedoch den Druck seiner Finger zu verringern, »ich habe keineswegs die Absicht, Ihnen Gewalt anzutun. Eine solche Torheit hatte ich bislang nicht nötig, und ich werde ganz gewiss nicht heute damit anfangen. Obwohl«, gänzlich unverfroren ließ er seinen Blick über ihre Silhouette wandern, »obwohl eine solche Überlegung grundsätzlich vielleicht lohnenswert wäre …«
Er sah ihr wieder in die Augen, und sein spöttisches Lächeln vertiefte sich. Wie unter einem Bann starrte Helena ihm in die Augen, die sie wie in einem Sog zu ihm zu ziehen schienen, und sie glaubte, seitwärts aus dem Sattel zu rutschen. Ihr war heiß, und gleichzeitig spürte sie, wie sie eine Gänsehaut bekam. Ein unerklärliches, fremdartiges Gefühl zog ihr den Magen zusammen, breitete sich in ihr aus, ließ Herzschlag und Atem aus dem Takt kommen. Doch dann sah sie das Glitzern in seinen Augen, das erwartungsvolle Kräuseln seiner Mundwinkel, und erkannte, dass er genau wusste, was in ihr vorging, und dass er es genoss.
Zorn flammte in ihr auf, und sie straffte sich wieder, suchte sich ihm zu entwinden, erwiderte fest und unbeirrbar seinen Blick.
»Lassen Sie mich los – auf der Stelle«, forderte sie ihn leise, aber bestimmt auf und setzte mit einem leisen Fauchen hinzu, »Sie eitler, aufgeblasener Lackaffe – Sie Snob !«
Ein breites Lächeln erhellte sein Gesicht, ebenso unverschämt wie charmant. Helena wartete atemlos auf eine Erwiderung oder gar eine Handgreiflichkeit, doch ebenso plötzlich, wie er ihr Handgelenk gepackt hatte, ließ er es nun wieder los. Seine Finger hinterließen pochende, gerötete Male darauf.
Ihr Kinn herausfordernd in die Luft gereckt, zog sie Achilles’ Zügel an, wollte ihr Pferd an ihm vorbeilenken, doch wie selbstverständlich ließ der Fremde seinen Hengst vorwärts gehen und schnitt ihr den Weg ab. Helena schluckte, bemüht, sich ihre Verunsicherung, ja Angst, nicht anmerken zu lassen. Sie ahnte, dass er sie nicht einfach so gehen lassen würde – gleich, ob sie vorwärts in Richtung der steil aufstrebenden Klippen oder den offenen Strand entlang auszuscheren versuchte, er würde immer einen Lidschlag schneller sein, so sicher, wie er auf seinem Pferd saß. Seine Augen funkelten amüsiert, und Helena begriff, dass er mit ihr spielte und um seine Überlegenheit wusste.
Zu ihrer Linken erhob sich der Teil der Klippen, der als Witch’s Head bekannt war – ausgewaschene Stellen und Verwerfungen in einer Felswand, die leeren Augenhöhlen und dem wirren Haar eines Gorgonenhauptes ähnelten. Ein großer, an einen zahnlosen Mund
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