Himmel über dem Kilimandscharo
starren; Jonny war ganz zappelig geworden, und Mama hatte ihm schließlich Süßigkeiten versprochen, damit er endlich stillhielt.
Über das gerahmte Foto hatte man ein schwarzes, durchsichtiges Band drapiert, das ein wenig in das Bild hineinhing. Es gab noch weitere Neuerungen in der Stube. Tante Fanny und die Großmutter hatten die Kommode unters Fenster geschoben, an ihrem Platz stand jetzt Mamas Klavier. Es hatte heftige Wortwechsel darum gegeben, denn weder die Tante noch die Großmutter hatten das Klavier haben wollen, das ihrer Meinung nach die ganze Wohnstube » zukleisterte«. Zu Charlottes größter Überraschung hatte aber dieses Mal der Großvater das letzte Wort gehabt.
» Es ist ein schönes Instrument, und wenn Gerhard einmal in besseren Verhältnissen lebt, kann er es sich abholen.«
Onkel Gerhard war Papas jüngster Bruder. Er wohnte in Hamburg, und man hatte Charlotte erzählt, dass er dort Musik unterrichtete, aber sie war sich nicht sicher, ob das der Wahrheit entsprach, denn die Großmutter seufzte immer, wenn sie von ihm sprach.
» Was aus dem Jung wohl noch werden soll!«
Dabei war Onkel Gerhard schon dreißig Jahre alt– eigentlich hätte schon längst etwas aus ihm geworden sein müssen. Charlotte mochte ihn gern, obgleich sie ihn nur zweimal in ihrem Leben gesehen hatte. Einmal war er in Emden zu Besuch gewesen, da hatte er mit Mama musiziert; sie hatte Klavier gespielt, er die Geige. Das zweite Mal war er bei der Trauerfeier gewesen, da war er erst nach der Kirche angekommen und hatte mit ihnen zu Mittag gegessen, doch in dem verwandschaftlichen Getümmel hatte Charlotte keine Zeit gehabt, mit ihm zu sprechen. Sie hätte ihm das Klavier gern gegeben, zumal sie selbst keine Lust verspürte, darauf zu üben. Aber das Klavier gehörte Mama; worauf sollte sie spielen, wenn sie zurückkehrte?
Die Kirschen reiften, Johannisbeeren und Erdbeeren wurden eingekocht, bald waren auch die Stachelbeeren süß genug. Die Wiesen wurden zum zweiten Mal gemäht und das Korn geschnitten. Auf dem Markt gab es Kohl und frische Möhren, Sellerie, Lauch, auch schon die ersten Kartoffeln und Pflaumen. Kühlere Winde rissen an der Wäsche, die Tante Fanny hinten im Garten zum Trocknen aufhängte, drüben am Spalier des Nachbarn reiften die Äpfel. Der Sommer schickte sich an, in den Herbst überzugehen.
Der Rückweg von der Schule war eine harte Geduldsprobe. Charlotte ging neben Klara her, die nur langsam vorankam und manchmal auch ein Weilchen stehen blieb, weil ihr Bein schmerzte. Um nichts in der Welt wäre Charlotte vorgelaufen, aber wenn sie dann endlich in die Ulrichstraße einbogen, klopfte ihr Herz voller Aufregung, und sie reckte den Hals, um zu schauen, ob vor dem Haus der Großeltern vielleicht ein Fuhrwerk stand. Einmal, es war schon Ende August, erblickte sie einen Pferdewagen, und sie spürte, wie die Hoffnung heiß in ihr aufstieg. Doch es war nur ein Bekannter des Großvaters, der in Emden gewesen war und von dort einige Kisten mitgebracht hatte, darunter auch ein kleines Kästchen aus schwarzem Holz mit einer Zeichnung auf dem Deckel, die von einer Glasscheibe geschützt wurde.
» Das ist deine«, sagte die Großmutter, als sie mit Klara ins Haus trat. » Wenn sie in der Schlafkammer unters Bett geht, dann nimm sie mit hinauf.«
Charlotte schüttelte den Kopf. Die Enttäuschung schnürte ihr den Hals so eng zu, dass sie nicht reden konnte. Nein, sie wollte diese Kiste nicht haben, sie gehörte nach Emden in ihr Zimmer. Dort hatte sie ihren Platz.
An den Abenden wurde jetzt in der Stube die große Lampe angezündet, weil Tante Fanny und Ettje viel zu nähen hatten. Sie nähten Unterwäsche, Röcke und Jacken, einen Anzug für den Großvater und für Paul neue Hosen. Auch Klara bekam einen Rock und ein Kleid, obgleich sie die Sachen nicht haben wollte, denn sie wurden aus den Kleidern von Charlottes Eltern hergestellt. Die Stoffe waren gut, man brauchte nicht allzu viel zu ändern und konnte so eine Menge Geld sparen.
Es wurde immer früher dunkel, die Äpfel waren längst abgeerntet, auch die Blätter waren schon gelb, und der Wind wehte sie von den Bäumen und über die Straße. Nebel stieg aus den Feldern auf, verhüllte den Fluss und verwischte die Konturen der Häuser. Die Stadt war grau wie ein trostloses Gefängnis. Charlotte zog dicke Socken an und wickelte sich in das hellblaue Wolltuch ihrer Mutter ein– dennoch fror sie erbärmlich, nicht einmal in der Küche, wo der Herd
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