Himmel über dem Kilimandscharo
sagte sie leise und schloss den Deckel. » Mama, Papa und Jonny sind weit fort auf dem Ozean und haben mich vergessen.«
Der Laternenschein zitterte, dann glitt er zur Seite, und Klara stellte das Licht auf den Boden. Mühsam kniete sie nieder und schlang die Arme um Charlotte.
» Sie haben dich ganz sicher nicht vergessen«, flüsterte sie, den Mund dicht an Charlottes Ohr. » Sie denken an dich, solange du lebst. Das weiß ich ganz sicher.«
Am folgenden Morgen erwachte Charlotte mit tobenden Kopfschmerzen. Der Doktor musste ins Haus gerufen werden, denn das Fieber stieg so hoch, dass sie allerlei verrücktes Zeug vor sich hin redete.
» Gott behüte, dass es eine Lungenentzündung wird«, stöhnte Tante Fanny. » Aber sie musste ja mitten in der Nacht auf den kalten Dachboden steigen. Diese Eigenmächtigkeiten müssen ihr unbedingt ausgetrieben werden.«
Dezember 1880
Am Heiligen Abend saß Charlotte, in ein Federbett gewickelt, in der Wohnstube, wo ein Strauß Kiefernzweige auf der Kommode prangte, mit bunten Kugeln und Zuckergebäck geschmückt. Daheim hatte es immer einen Tannenbaum gegeben, und Mama hatte auf dem Klavier Weihnachtslieder gespielt, nicht solche, wie man sie hier sang, sondern englische Lieder. Aber Charlotte war so schwach, dass sie nicht einmal traurig wurde. Die langen Reden des Großvaters über die Geburt des Herrn und das Licht der Welt, die Weihnachtschoräle, die Tante Fanny so laut und falsch mitsang, das kummervolle Schweigen der Großmutter – all das berührte sie nicht, so als geschähen diese Dinge nicht hier in der Wohnstube, sondern weit entfernt von ihr in einem fremden Haus. Es war ihr sogar gleichgültig, dass Paul die prächtige Ritterburg und die Pferde zum Geschenk erhielt, die ihrem kleinen Bruder Jonny gehört hatten. Paul weinte ein paar Tränen, als er diese Gaben entdeckte, vielleicht vor übergroßem Glück, vielleicht aber auch, weil er Jonny gemocht hatte und den Spielkameraden vermisste. Charlottes Geschenke waren eine Schale mit Gebäck, ein fein gesticktes Taschentuch von Klara und ein neues Kleid mit gehäkeltem Spitzenkragen, doch sie sah sie nicht einmal an.
Als zwei Tage später die ersten Verwandten zu Besuch kamen, konnte sie schon angekleidet und in ein warmes Tuch gehüllt auf einem Stuhl sitzen. Sie sei ein tapferes Mädchen, sagte man ihr, die Großeltern hätten sie sehr lieb. Gewiss sei sie fleißig und gehorsam, doch das Wichtigste sei, dass sie ganz schnell wieder gesund werde. Sie wolle den Großeltern doch keinen Kummer bereiten.
Charlotte nickte verlegen und antwortete jedes Mal nur » Ja, gewiss«, aber dennoch empfand sie die Besuche als angenehm. Das fröhliche Schwatzen und Kaffeetrinken belebte die triste Wohnstube und ließ auch die Großmutter wieder lächeln, wenn auch verhalten. Geschenke wurden verteilt, wobei besonders Charlotte reich bedacht wurde, und seltsamerweise gefiel es ihr jetzt, wenn die Tanten und Cousinen sie in die Arme nahmen. Es tat ihr wohl, so viel Leben zu spüren. Wer konnte so ausgiebig und albern lachen wie ihre Cousine Marie, die schon fast erwachsen war und dennoch ständig mit ihrer Schwester Menna dummes Zeug schwatzte? Marie hatte dichtes, goldblondes Haar, das sie manchmal am Hinterkopf aufsteckte wie eine erwachsene Frau. Sie brauchte es nicht mit der Brennschere zu kräuseln, wie Ettje es neulich versucht hatte, denn Marie hatte Naturlocken. Auch ihr Gesicht war hübsch, vor allem der kleine Mund mit den herzförmigen Lippen und die Art, wie sie lächelte.
Als die Feiertage vorüber waren, wurde es wieder still im Haus, die Stadt war grau und eintönig wie zuvor, und der Nebel mischte sich mit dem Rauch, der aus den Schornsteinen der Häuser aufstieg. Es war bitterkalt, Eisschollen trieben auf dem Fluss, und auf der Nesse, die inmitten der Ledaschleife lag, waren Gräser und Büsche weiß gefroren.
Charlotte war genesen, ihre Kräfte kehrten zurück, und das Leben trug sie voran. In der Schule hatte sie keine Mühe, brauchte kaum hinzuhören und hatte doch längst begriffen, was anderen mühsam eingepaukt werden musste. Wenn sie aufpasste– was sie nicht immer tat–, war sie bei den Besten. Schwieriger war es mit den Freundschaften, da blieb Klara ihre einzige Vertraute, denn Charlotte Dirksen war nicht einfach, und sie hatte ihren eigenen Kopf.
Zu Hause focht sie beharrlich um ihre Stellung, wollte sich der vier Jahre älteren Ettje nicht unterordnen, und es verging kein Tag, an dem die
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