Himmel über dem Kilimandscharo
die vor einigen Monaten einen Brief mit einer hübschen Fotografie ihrer Kinder geschickt hatte. Der dreijährige Arthur saß auf einem hölzernen Schaukelpferd, neben ihm kniete die achtzehnjährige Berta, eine zarte junge Frau, herausgeputzt wie eine feine Dame. Dahinter stand Johannes, der inzwischen sechzehn war, dünn und hellblond, seine Augen blickten kritisch, fast feindselig in die Welt. Marie schien recht glücklich mit ihrem zweiten Ehemann zu sein, der– so schrieb sie– allen drei Kindern ein guter Vater sei und keine Unterschiede mache. Nur am Rande hatte sie erwähnt, dass George nach langer Abwesenheit wieder in London sesshaft geworden sei und in Whitechapel eine Arztpraxis eröffnet habe, sie pflege jedoch keinen Kontakt zu ihm. Charlotte kannte diesen Stadtteil nur, weil Marie ihn hin und wieder in ihren Briefen erwähnte. Wenn man ihr glauben konnte, dann gaben sich in Whitechapel Bettler und Kriminelle ein Stelldichein– es war gewiss eine ganz andere Gegend als die, in der die Praxis von Georges Vaters gelegen hatte. Ob George wohl wieder geheiratet und eine Familie gegründet hatte? Seit seinem Besuch auf der Plantage hatte sie nie wieder etwas von ihm gehört, aber sie wünschte ihm sehr, dass er nach den langen Wanderjahren endlich zur Ruhe gekommen war.
Auch sie hatte ihren Frieden gefunden. Sie war jetzt fünfunddreißig Jahre alt und hatte in diesem Land zwei Ehemänner begraben. Den einen hatte sie bemitleidet und geglaubt, für ihn sorgen zu müssen; sein unseliges Ende hatte sie nicht verhindern können, es belastete sie immer noch. Den anderen aber hatte sie geliebt, und sie liebte ihn immer noch. Die drei kurzen Jahre an Max’ Seite waren übervoll mit Glück gewesen, mehr, als vielen anderen Menschen in ihrem ganzen Leben beschieden war. Das Schicksal hatte ihr diese Zeit geschenkt, dafür war sie dankbar, mehr konnte und wollte sie nicht verlangen.
Sie hatte Menschen, die ihr nahestanden. Ihr Kind. Hamuna. Schammi, der fortgelaufen war. Einige Nachbarn, zu denen der Kontakt jedoch nicht allzu eng war. Natürlich die Familie in Leer, doch die war weit fort. Nicht nur räumlich, auch ihr Leben verlief in ganz anderen Bahnen, und oft war es schwer, einander zu verstehen. Sie hatte Klara…
Klara, ihre kleine Cousine. Hatte sie etwa vergessen, wie sehr sie sich während ihrer eigenen Schwangerschaft nach Klara gesehnt hatte? Ihre Cousine war allein mit ihrem Mann in einem primitiven, einsam gelegenen Missionshaus. Was, wenn Peter Siegel sie nicht rechtzeitig nach Kilwa brachte? Was, wenn Klara diese Geburt nicht überlebte?
Sie zündete die Lampe wieder an und ging auf Zehenspitzen hinüber zu ihrem Schreibtisch. Sorgfältig tauchte sie die Feder ein und schrieb ein Postskriptum.
Nein, du kannst mich nicht von meinem Vorhaben abbringen, versuche es erst gar nicht, denn ich bin fest entschlossen. Mitte Juli werde ich hier aufbrechen, das letzte Stück von Mombo bis Tanga kann ich zum Glück mit der Usambara-Bahn fahren, und dann nehme ich den Küstendampfer bis Kilwa Kivinje. Für den Weg bis Naliene werde ich Maultiere mieten.
Sieben Jahre lang haben wir uns nicht gesehen, so viel ist inzwischen geschehen. Ich habe große Sehnsucht nach dir, meine Klara, und ich will an deiner Seite sein, wenn deine schwere Stunde naht, die doch zugleich die glücklichste deines Lebens sein wird.
Charlotte
Der Zug kam nach mehreren Stößen und unter dem ohrenbetäubenden Kreischen der Bremsen zum Stehen. Weißer Dampf zog über den Bahnsteig, nur schemenhaft erkannte man durch das Zugfenster die Form einer strohgedeckten Baracke, vor der sich eine Anzahl Eingeborener versammelt hatte.
» Tanga!«, rief der weiße Pflanzer vergnügt und schob sich den verrutschten Tropenhelm aus der Stirn. » In nur fünf Stunden– unsere Usambara-Bahn ist doch ein Segen.«
Charlotte stimmte ihm höflich zu, in Wirklichkeit war sie unsicher, ob sie sich seiner Begeisterung anschließen konnte.
Sie fühlte sich nach der Bahnfahrt von Mombo bis Tanga viel erschöpfter als nach einer ganzen Tagesreise entlang des Karawanenwegs auf dem Rücken ihres Maultieres. Vor allem die Enge im Waggon war lästig. Man saß aneinandergepresst auf den Holzbänken, die einen schliefen, die anderen gestikulierten und schwatzten, wieder andere aßen irgendwelche Früchte und warfen die Kerne über die Köpfe der Mitreisenden hinweg zum Fenster hinaus. Für die Pflanzer in Usambara war die Bahn allerdings ein großer Vorteil,
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