Himmel ueber fremdem Land
Angelegenheit zielgerichtet auf den Punkt. Ein Windstoß raschelte in den Zeitungsblättern und riss ihr diese beinahe aus der Hand. Eilig raffte Lieselotte Die Frauenbewegung zusammen und setzte ihren Heimweg fort.
Zu Hause angekommen bot sich ihr das ewig gleiche Bild: Ihr Vater lag angetrunken im Schlafraum der Eltern und schnarchte, während ihre Mutter am Tisch saß und nähte, obwohl die Petroleumlampe ihr Arbeitsfeld nicht annähernd genügend erhellte.
Durch Helenes Krankheit hatte sie ihre Anstellung eingebüßt, weshalb sie neuerdings Gelegenheitsarbeiten als Näherin ausführte. Dadurch hatte sich ihre finanzielle Situation zusätzlich verschärft, zumal es der Vater aufgegeben hatte, sich um Arbeit zu bemühen.
Peter und Willi saßen auf der Couch und lasen in einem der von Demy und dieser Henny besorgten Schulbücher. Sie taten das nur noch, wenn ihr Vater außer Haus war oder fest schlief, nachdem er kurzerhand einige der neuwertigen Bücher verkauft hatte.
»Du kommst spät.« Ihre Mutter sah nicht von ihrer Näharbeit auf, was dem Mädchen die Gelegenheit gab, die aufrührerischen Schriften ungesehen in ihrer Kleidertruhe zu verstecken.
»Entschuldigen Sie bitte, Frau Mutter.« Die junge Frau küsste die ihr einladend entgegengereckte Wange.
»Es ist noch ein Rest Brot da.«
»Danke.«
»Und ich habe gute Neuigkeiten: Ich darf ab morgen an meine alte Stelle zurückkehren.«
Lieselotte griff nach dem Kanten Brot, der ihr heute als wenig schmackhafte Abendmahlzeit genügen musste, und kaute eingehend darauf herum, damit sich in ihrem Magen zumindest annähernd ein Gefühl der Sättigung einstellte.
»Das ist wunderbar«, erwiderte sie, wusste aber nicht recht, ob das stimmte. Einerseits brauchten sie das Geld, andererseits war es für die kleinen Brüder schön, ihre Mutter mehr um sich zu haben. Auch ihr Vater war ruhiger, wenn seine Frau anwesend war und den Haushalt wie früher ordentlich versorgte.
»Der Abteilungsleiter hat sich für mich eingesetzt. Ich hätte immer gut und schnell gearbeitet, meinte er.«
»Es ist gut, dass dies endlich jemand honoriert, Frau Mutter.«
Ein flüchtiges Lächeln huschte über das verhärmte Gesicht von Lisa. Ihrer Tochter gefiel das. So kannte sie ihre Mutter von früher, als das Leben zwar auch hart und entbehrungsreich gewesen war, aber dörfliche Gemeinschaft auch Hilfe und Beistand bot.
»Der Lohn ist allerdings erst mal geringer als vorher. Bis ich mich neu bewährt habe.«
Lieselotte spürte den Ärger über diese ungerechte und erpresserische Regelung in sich aufsteigen.
»Aber es ist trotzdem mehr, als diese elende Näharbeit abwirft.« Lisa sah von dem edlen Satinstoff auf, der prompt zu Boden glitt. Bestürzt hob die Näherin ihn auf und untersuchte ihn sorgfältig auf Krümel und Flusen.
»Das Beste aber ist, Tochter, dass ich mit dem Abteilungsleiter auch über dich gesprochen habe. Er stellt dich auf Probe ein. Solltest du dich ebenso bewähren wie ich, was ich ihm versichert habe, ist dir ein geregeltes Einkommen sicher. Das heißt: Wir haben ab sofort mehr Geld. Für bessere Mahlzeiten, neue Schuhe für euch, Lampenöl, Brennholz. Ist das nicht herrlich?«
Der letzte Bissen des trockenen Brotes drohte Lieselotte in der Kehle stecken zu bleiben. Sie wollte doch zur Schule gehen, nun, da die Damen Dohm und Cauer ihr ihre Unterstützung zugesagt hatten. Im Gegenzug hatte sie sich verpflichtet, für den Bund fortschrittlicher Frauenvereine tätig zu sein. Sie sollte Minna gelegentlich auf ihren Vortragsreisen durch das ganze Land begleiten und selbst vor den jüngeren Frauen der verschiedenen Vereine sprechen. Das alles würde sie nicht neben der Fabrikarbeit leisten können.
»Frau Mutter, ich …«
»Du brauchst nichts zu sagen. Es ist nicht einfach, diese vielen Stunden durchzuarbeiten und niemals auch nur einen freien Tag zu genießen, außer dem Sonntag natürlich. Aber wir werden ein besseres Leben führen. Wir können den Jungen ein gutes Zuhause bieten – und das ist es doch wert, nicht? Du bist jung und klug. Wenn du dich geschickt anstellst und ein Vorgesetzter deine Fähigkeiten entdeckt, arbeitest du dich hoch. Du könntest eines Tages kleine Leitungsaufgaben übernehmen und mehr verdienen, als ich es je tue. Wir dürfen Gott für diese Aussicht dankbar sein.«
Lieselotte brachte nur ein Seufzen zustande, bevor sie sich abwandte und begann, sich für die Nacht umzukleiden. Dabei rollten ihr Tränen der Verzweiflung über
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