Himmel ueber fremdem Land
war schmerzlich bewusst, dass der Spagat zwischen wohlerzogener Dame und Schülerin und zwischen ihren Freunden in der Arbeiterschaft und unter den Industriellentöchtern, verbunden mit ihren kleinen Geheimnissen, an ihren Kräften zehrte. Sie schloss für einen Moment die Augen und sehnte sich nach Hause zurück, in das behütete Leben auf dem Gutshof. Sie vermisste ihren Vater, der ein sicherer Hafen für sie gewesen war, ebenso wie ihr Feddo und Rika und ihre Schulkameraden, das Meer und ihre verlorene Kindheit fehlten.
Sobald Tilla von ihrer Hochzeitsreise zurückkehrte, würde sie sie erneut bitten, nach Hause zurückkehren zu dürfen. Ihre Halbschwester war jetzt eine verheiratete Frau; zu welchem Zweck benötigte sie eine Gesellschafterin? Ihr Mann konnte sie doch zu allen Veranstaltungen und Treffen begleiten, oder aber eines der Dienstmädchen aus dem Hause Meindorff.
Demy hob den Kopf. Ja, sie würde nach Hause fahren. So bald wie irgend möglich!
***
Demy betrat über die Stufen zwischen dem kleinen und großen Foyer die im Dunkeln liegende weitläufige Halle und zuckte erschrocken zusammen, als durch die nur angelehnte Bibliothekstür ein eigentümliches, für sie nicht einzuordnendes Geräusch die Stille durchbrach. Besorgt rieb sie sich ihre Nase und lauschte auf die ungewöhnlichen Laute, die den Eindruck erweckten, jemand leide große Schmerzen und versuche sein Stöhnen mühsam zu unterdrücken.
Ob sie der Person zu Hilfe eilen sollte?
Grübelnd sah Demy an sich hinunter. Sie trug, da sie einer offiziellen Einladung der Barnas gefolgt war, eines ihrer besseren Kleider, doch nach dem Literaturkreis hatte sie sich noch mit ihren Schülern im Park getroffen und mit ihnen auf der Wiese gesessen, und nun wies der helle Rock ein paar unschöne Flecken und Falten auf. Auch ihre Schuhe, in denen sie bei einem fröhlichen Spiel mit den Kleinen dem Teich zu nahe gekommen waren, offenbarten, dass sie sich wieder einmal nicht wie eine Dame, sondern eher wie ein jugendlicher Wildfang benommen hatte. Ob sie in diesem Zustand jemandem aus dem Hause Meindorff gegenübertreten sollte? Allerdings … Demy unterbrach ihre Überlegungen, denn den eigentümlichen Lauten folgte ein heftiges Poltern, als fielen einige der wertvollen Bücher zu Boden.
Unsicher, aber durchaus gewillt, der Person in der Bibliothek zu Hilfe zu eilen, trat sie näher.
Der unterdessen eingetretenen Stille folgten eilige, sich der Tür nähernde Schritte, und Demy schrak zurück, als diese aufgestoßen wurde. Henny, dank ihrer roten Haare selbst im Halbdunkel nicht zu verwechseln, erschien im schmalen Band des durch die Tür fallenden Lichtscheins. Sie verließ fluchtartig den Raum und verschwand, schneller noch als Demy reagieren konnte, in der Dunkelheit des Saales.
Während das Mädchen durch die offene Tür sah, wie Meindorff sich erst die Hosenträger über die Schultern schob und dann in sein Jackett schlüpfte, öffnete und schloss sich die Tür zum Bedienstetentrakt. Das Dienstmädchen war fort.
Grübelnd rieb Demy mit dem Zeigefinger über die Furchen auf ihrem Nasenrücken. War der Rittmeister verletzt und hatte Henny gerufen, damit sie seine Wunde versorgte? Aber weshalb in der Bibliothek? Und warum auf diese fast heimlichtuerisch anmutende Weise, zumal für so etwas Maria oder ein Arzt wesentlich befähigter gewesen wären?
Verstört wandte Demy sich ab. Henny hielt sich des Öfteren in der Bibliothek auf. Ob das nicht erlaubt war? War sie von Meindorff dabei ertappt und gezüchtigt worden? Noch immer nachdenklich ging sie auf die in der Wandvertäfelung eingelassene Tür zu und hatte sie fast erreicht, als eine Stimme im scharfen Befehlston sie zusammenzucken ließ.
»Demy van Campen? Komm sofort hierher!«
Für einen Moment schien ihr Herzschlag auszusetzen. Ihr erster Gedanke war, so zu tun, als habe sie Meindorff nicht gehört, und die Flucht zu ergreifen. Aber die Stimme eines ehemaligen Offiziers der Kaiserlichen Armee war im Grund von niemandem zu überhören, vermutlich nicht einmal von einem fast tauben Menschen.
Mit weichen Knien und angehaltenem Atem drehte sie sich um und folgte zögernd seiner Aufforderung. Dachte der Rittmeister, sie habe an der Tür gelauscht und kannte nun sein Geheimnis – was auch immer das war?
»Guten Abend, Herr Rittmeister«, grüßte sie höflich, doch auch mit einer Spur Aufmüpfigkeit in der Stimme.
»Abend, ja!? Deine Verabredung mit der kleinen Barna muss seit Stunden zu
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