Angst über London
Die medial begabte Miriam di Carlo spürte als erste, dass etwas nicht stimmte.
Irgend etwas war anders in dieser Novembernacht. Sie schreckte aus dem Schlaf hoch, saß aufrecht im Bett, hatte die Augen weit geöffnet und starrte in die Dunkelheit. Gleichzeitig lauschte sie. Nichts…
Es blieb ruhig in der letzten Etage des hohen Hauses, in dem Miriam mit zahlreichen anderen Mietern wohnte. Hier erreichte sie auch nicht der Widerschein der Leuchtreklamen. Man kam sich vor wie auf einer Insel.
»Warum bin ich wach geworden?« murmelte sie und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch das dunkelbraune zerwühlte Haar, als zwischen den Fingern auf einmal Funken sprühten.
Miriams Hand zuckte zurück. Sie steckte voller Energie, sie war elektrisch aufgeladen, das geschah immer, wenn ein großes Ereignis dicht bevorstand, wenn sie ihre Ahnungen hatte, wenn sie spürte, dass eine fremde Macht in diese Welt eingriff.
Miriam hatte aus ihrer Begabung nie ein Geschäft gemacht. So etwas widerte sie an. Sie behielt ihre Ahnungen und Träume lieber für sich, was vielleicht auch nicht immer gut war. Doch Miriam wollte nicht ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gezerrt werden. Sie hasste Publicity. Sie wollte lieber unerkannt bleiben und als Sachbearbeiterin in einem Industrieunternehmen weiterhin ihre Brötchen verdienen.
Aber noch nie hatte sie die Gefahr mit einer solchen Deutlichkeit gespürt wie jetzt, und das erschreckte sie zutiefst.
Ich muss etwas tun, dachte sie, warf die leichte Bettdecke zurück und schwang ihre langen Beine über die Kante.
Sie knipste kein Licht an. Auf nackten Sohlen trat sie ans Fenster und schob den Vorhang ein wenig zur Seite.
Miriam schaute durch den Spalt.
Dunkelgrau lag der Himmel. Gewaltige Wolken verdeckten die Gestirne.
Nichts war anders…
Miriam di Carlo atmete tief durch. Sie stützte die Handballen auf die kalte Fensterbank. Ihr Atem traf die Scheibe, die leicht beschlug. Das lange Haar fiel nach vom. Einige Strähnen verdeckten ihr ebenmäßiges Gesicht wie ein Vorhang.
Die dreißigjährige Miriam konnte man als eine schöne Frau bezeichnen.
Sie hatte eine sportliche Figur und war genau an den Steilen gerundet, die Männer ins Auge fallen. Sie war immer modisch gekleidet und hatte grünblaue Augen, die eine samtene Wärme ausstrahlten. Sie hätte es leicht gehabt bei Männern, doch sie war gewarnt. Eine Ehe hatte sie hinter sich. Ihr Mann hatte sie betrogen. Miriam hatte es dank ihrer medialen Begabung gespürt, sie hatte es ihm auf den Kopf zugesagt und das war dem Ehemann unheimlich gewesen. Er hatte sich verdrückt.
Vor so einer Frau konnte man ja nichts verstecken.
Das war mittlerweile fünf Jahre her.
Miriam wollte sich gerade umdrehen und zum Bett zurückgehen, als sie das Gefühl hatte, ihr Kopf würde in einen Schraubstock gepresst.
Druck von beiden Seiten.
Miriam stöhnte auf, hob die Hände, presste sie gegen ihre Wangen. Mit schreckgeweiteten Augen blickte sie hinunter auf London.
Auf London?
Die Perspektive hatte sich plötzlich verzerrt. Als hätte jemand die Proportionen bei einem Gemälde verschoben. Big Ben befand sich ganz in der Nähe, der Tower, Victoria Station, die hohen Häuser, die Menschen…
»Nein!« flüsterte sie, »nein, das gibt es nicht, das darf nicht wahr sein, bitte…«
Was Miriam di Carlo sah, war der Untergang Londons. Das große Entsetzen, das gewaltige Chaos. London starb…
***
Gebäude stürzten ein. Big Ben zerbröckelte, der Bahnhof zerbrach, die Brücken fielen in die Themse, der Tower sah aus wie nach einem schweren Bombenangriff. Und dann die Menschen. Sie waren am allerschlimmsten betroffen. Ihre Wohnhäuser waren nicht mehr zu retten.
Schreiend rannten die Verzweifelten auf die Straße, wo sie von den einstürzenden Mauem der Häuser begraben wurden.
Viele wollten auch mit ihren Wagen fliehen. Die Ampeln funktionierten nicht mehr, viele Straßen waren verschüttet.
London im Untergang!
Dies alles sah Miriam mit erschreckender Deutlichkeit, und sie wusste, dass es auch eintreffen würde. Noch nie hatten ihre seherischen Fähigkeiten versagt.
»Mein Gott!« sie taumelte zurück und spürte, wie heiß ihre Wangen auf einmal waren. Eine Art Nervenfieber schüttelte sie durch. Zum Glück befand sich das Bett in ihrem Rücken. Mit den Waden stieß sie dagegen. Sie fiel auf die Decke und blieb liegen. Ihr Atem ging schnell und keuchend. Der Schweiß lag wie eine Ölschicht auf ihrer Stirn. Sie konnte einfach nicht
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