Himmel ueber fremdem Land
rustikalen Esstisch. Ihr vor Schweiß glänzendes zartes Gesicht wies eine hochrote Farbe auf, feuchte Haarsträhnen hingen ihr wirr ins Gesicht. Ihren Oberkörper bedeckte weder Kleidung noch eine Decke, vermutlich, weil es dem fiebernden Mädchen zu heiß war.
Erschrocken beobachtete Demy, wie mühsam das ausgezehrte und dünne Kind atmete.
»Hustet deine Schwester mit herausgestreckter Zunge?«, fragte Maria Willi und ignorierte den verschüchterten Peter vorerst. Willis Zwilling saß zusammengekauert auf dem Boden, nahe bei den Füßen seiner Schwester, und beäugte die beiden Eindringlinge ängstlich.
»Ja.«
»Keuchhusten«, diagnostizierte Maria erneut. Ihr besorgter Blick wanderte von Peter zu Willi und schließlich zu Demy.
»Ich hatte als kleines Kind Keuchhusten«, beruhigte Demy die Frau und zog sich einen Stuhl heran, damit sie sich neben Helene setzen konnte. »Wir hatten ihn auch, da war Helene noch nicht geboren«, erklärte Willi. »Aber unser Fieber war nicht so hoch, sagt unsere Mutter. Sie ist auf dem Weg zum Arzt; sie will ihn fragen, ob er noch mal herkommt.«
»Wäre sie mal besser bei dem Kind geblieben«, murmelte Maria und betastete Stirn, Nacken und Ellenbogen des Mädchens. »Sie hat vermutlich eine Lungenentzündung und das nicht erst seit heute. Es wird wohl nicht mehr lange dauern.«
Marias Tonfall klang nüchtern, aber in ihrem Gesicht sah Demy ihren tief empfundenen Schmerz. Dies zu sehen verdeutlichte ihr was die Frau da soeben gesagt hatte.
»Wir legen kalte Wadenwickel an und …« Demys aufgeregte Vorschläge wurden von einem weiteren Hustenanfall unterbrochen. Der Brustkorb des Mädchens fiel förmlich in sich zusammen, als es versuchte, Luft zu holen. Ihre Rippen standen weit hervor, während sich ihr Oberkörper nach innen zusammenzog. Beim Anblick Helenes, die mit jeder Faser ihres Körpers um Luft rang, schossen Demy die Tränen in die Augen. Helenes Gesicht lief bläulich an. Ihre Augen schienen aus den Höhlen quellen zu wollen, obwohl sie sie geschlossen hielt, als sie mit herausgestreckter Zunge hustete und gleichzeitig verzweifelt nach Luft schnappte. Der Anfall wollte kein Ende nehmen.
Demy wollte der Kleinen so gern helfen, konnte aber nichts für sie tun. In ihrer Hilflosigkeit griff sie nach Helenes verkrampften Fäusten und umklammerte diese. Endlich kam das erlösende Einatmen, als der Anfall endete, doch Helene war zu entkräftet, um die Erleichterung überhaupt noch zu verspüren. Ihre Augen blieben weiterhin geschlossen. Wie ein Vögelchen mit gebrochenen Flügeln lag sie da, ergeben in ihr Schicksal.
Peter begann, leise Wimmergeräusche auszustoßen. Ahnte er den nahen Tod? Litt er noch viel mehr mit seiner jüngeren Schwester, als Demy es tat?
Maria hatte das Ende des Anfalls abgewartet, bevor sie mit lautem Schaben den Tisch beiseitezerrte, sich ebenfalls einen Stuhl nahm und sich neben die Kleine setzte. Mit beiden Händen tastete sie behutsam den zarten Körper ab, der zerbrechlicher anmutete als eine Blüte.
»Arme kleine Blume«, flüsterte sie und griff nach der Schüssel und dem Tuch, mit dem sie zärtlich das glühende Kindergesicht wusch.
Maria sagte nichts darüber, dass hier viel zeitiger ein Arzt hätte geholt werden müssen und Helene in ein Krankenhaus gehörte. Sie wusste um die aussichtslosen Lebensumstände der Familien, die im Scheunenviertel wohnten.
»Fräulein van Campen, das Kind kann Sie noch hören. Können Sie vielleicht ein Gebet sprechen? Ich halte eigentlich nicht viel davon, aber in dieser Situation …«
Es bedurfte keiner zweiten Aufforderung an Demy. Sie rutschte vom Stuhl und kniete sich auf den kalten Boden. Als sie ihren Kopf neben Helenes auf das fleckige Polster der Couch legte, hielt sie immer noch die nun schlaffen Fäustchen mit ihren Händen umklammert. Allein, es wollten ihr keine Worte über die Lippen kommen. Was sollte sie beten, im Angesicht des Todes eines Kindes, das sein Leben eigentlich noch vor sich haben, das mit seinen Freunden und Geschwistern über Wiesen laufen, spielen und singen sollte?
Die Strophe eines Liedes, das Anki früher häufig gesungen hatte, kam ihr in den Sinn, und ohne lange zu überlegen, sagte sie die Worte halblaut in Helenes Ohr: »Jesus, geh voran, auf der Lebensbahn! Und wir wollen nicht verweilen, dir getreulich nachzueilen; führ uns an der Hand bis ins Vaterland 14 .«
Sie lächelte unter Tränen zu Peter hinüber, der einen Großteil der Worte mitgesprochen hatte.
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