Himmel ueber fremdem Land
sichtbar, zeugte von Freiheit, Hoffnung und Freude.
»Das Leben hier saugt den Menschen entweder jede Lebensfreude aus dem Herzen oder es formt sie zu Kämpfern. Für eine gute, gerechte Sache, oder aber für ihre eigenen Interessen – und das ist das, was wir, denen es besser geht als ihnen, zu fürchten haben.«
Demy nickte zu Marias Worten. Sie kannte Lieselotte noch nicht lange, doch sie spürte, wie der Drang, die Lebensumstände ihrer Familie und die der Tausend anderen um sie herum zu verändern, immer mehr zunahm. Sie konnte nur hoffen und beten, dass Lieselotte sich für eine positive Richtung entschied und nicht für einen Kampf, der sie am Ende vermutlich selbst zerstören würde.
Bei diesem Gedanken kamen Demy auch der kleine Nathanael und seine Mutter in den Sinn, deren Lebensweg sie kurz gekreuzt hatte. War die Frau ebenso ein Opfer dieser düsteren, in Hoffnungslosigkeit versinkenden Hinterhöfe und all dessen, was sie verkörperten? Und der kleine Junge? Würde es ihm nicht genauso ergehen? Ein Funken des Verstehens sprang in Demys trauerndem Herzen auf. Sie war erleichtert, dass ihr rechtzeitig Ankis Lied eingefallen war. Ohnehin würde ihre Schwester wohl sagen, dass Gott sie zum richtigen Zeitpunkt an den dunklen Hofeingang geführt hatte, um dem Neugeborenen das Leben zu retten. Aber stand sie dadurch nicht auch in der Verantwortung, es zu begleiten? Und wie verhielt es sich mit der Familie Scheffler? Gehörten auch sie zu den Personen, die Gott ihr ans Herz legen wollte?
In Demy keimte erstmals der Gedanke auf, dass sie nicht einfach nur willkürlich von Tilla hierher nach Berlin verschleppt worden war. Ob dahinter etwas Größeres stand, etwas, das sie noch gar nicht sehen oder begreifen konnte? Das musste sie dringend Anki fragen, wenn sie ihr das nächste Mal schrieb.
»Können die Meindorffs nicht Lieselotte oder ihrer Mutter eine Anstellung geben, ach, am besten gleich beiden?«
Die Haushälterin lächelte auf sie herab, während sie gemeinsam durch den Torbogen auf die Gasse hinaustraten.
»Selbst wenn sie eine Stelle zu vergeben hätten, würden sie es nicht tun. Häuser wie das der Meindorffs nehmen nur gut ausgebildete und mit einem exzellenten Leumund ausgestattete Angestellte. Das können diese bedauernswerten Menschen wohl schwerlich aufweisen. Aber Ihr Wille zu helfen ehrt Sie.«
Dem Mädchen blieb nichts anderes übrig als zustimmend zu nicken. Aufgrund dessen, was sie über Marias Lebensweg wusste, fiel es ihr noch schwerer, sich von ihr siezen zu lassen. »Danke, Frau Degenhardt, für Ihre Begleitung und Hilfe.«
»Ich habe nicht viel getan. Am hilfreichsten für Helene und ihre Brüder waren vielmehr Sie. Durch Ihren Einsatz für das Kind zeigten Sie den Geschwistern, dass jemand an sie denkt. Ihre Anwesenheit spendete ihnen allen Trost, Fräulein van Campen.«
»Könnten Sie nicht einfach nur Demy zu mir sagen?«
»Sie wissen doch, das lassen die Gepflogenheiten zwischen den Angestellten der Meindorffs und den Herrschaften nicht zu.« Maria lächelte und drückte für einen kurzen Moment gutmütig ihren Unterarm. »Aber ich verstehe, was hinter Ihrer Bitte steckt. Sie sind eine großherzige junge Dame, und ich hoffe, Sie sind stark genug, um in dieser Stadt nicht zerrieben zu werden.«
Kapitel 14
Berlin, Deutsches Reich,
März 1908
Lieselotte betrachtete die drei von der warmen Aprilsonne beschienenen Kinder, deren Augen nicht einen Moment von Demy wichen, obwohl im Park die Spaziergänger, Hunde, Enten und Schwäne für viel Ablenkung sorgen könnten, von dem Zeppelin, der über die Stadt hinwegbrummte, einmal ganz abgesehen. Dieses Mädchen besaß die Begabung, ihre beiden Brüder und die Schwester des Dienstmädchens aus dem Meindorff-Haushalt zu fesseln.
Der Lehrer an Lieselottes Dorfschule war ein älterer Herr gewesen, der mit seiner Rute vom ersten Schultag an deutlich gemacht hatte, wer in seinem überfüllten Klassenzimmer sprach und wer zu schweigen hatte. Obwohl sie gern lernte, hatte sie jeden einzelnen Schultag gefürchtet. Umso mehr freute sie sich über die Begeisterung und Zuneigung ihrer Brüder zu ihrer ungewöhnlichen Lehrerin. Immerhin opferten die Jungen für diesen zusätzlichen Unterricht ihre knapp bemessene freie Zeit.
Zufrieden wandte Lieselotte sich um und verließ den Park. Auch sie hatte heute noch etwas vor. Schnellen Schrittes eilte sie durch den Tiergarten bis an den Neuen See. Im Schatten der Trauerweiden, die ihre Zweige weit
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