Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
Aglaia, wie kann man die Kartoffeln nur so unfein zerdrücken?« – »Eine vollendete Dame wischt sich den Mund nicht ab wie ein Kutscher, Tanya. Sie tupft sich nur zart die Mundwinkel mit der Serviette.« So ging es in einem fort. Vor allem ihre Ordnungsliebe brachte die Mädchen oft zur Verzweiflung. »Man lässt keine Bücher aufgeschlagen herumliegen, Tanya.« – »Aglaia, die Reitgerte gehörte in den Stall. Würdet ihr euch bitte langsam Ordnung angewöhnen.«
Die herrlichen freien Nachmittage waren jetzt vollgestopft mit Unterricht im Sticken und Klavierspiel. Eines Tages meinte sie: »Heute werden wir Übungen zur Konversation machen. Eine gepflegte Unterhaltung ist lebensnotwendig für eine junge Dame.« Mademoiselle Claude hatte sich da etwas ausgedacht, auf das sie ganz besonders stolz war, das ihr allerdings zum Verhängnis werden sollte. Im großen Salon wurden auf verschiedenen Sesseln Puppen platziert, die Schilder um den Hals trugen mit Namen aus dem Bekanntenkreis der Wallersteins. »Ihr kennt diese Herrschaften ja alle«, begann sie streng. »Nun versucht einmal, euch mit ihnen zu unterhalten.«
Die Mädchen saßen sprachlos da. Dann begannen sie zu kichern. Das war ja wohl der Gipfel der Blödheit!
»Nun, dann fangen wir mal mit der Kommerzienrätin Heller an. Aglaia, möchtest du beginnen?« Die Augen der Gouvernante funkelten böse, und ihr schmaler Mund war zu einem Strich zusammengepresst. Aglaia saß trotzig da, die Arme über der Brust verschränkt. »Mit der doofen Heller will ich nicht reden. Die strickt ja immer nur.«
»Und du, Tanya? Wie ist es mit dir?«
Tanya überlegte fieberhaft, was sie die Kommerzienrätin fragen könnte, dann sagte sie leise: »Was wird das denn da, Frau Heller, vielleicht ein Schal?«
Aglaia prustete los. »Das ist doch wirklich zu blöd«, rief sie, »nein, so was Dummes.« Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Vor Zorn bebend holte die Gouvernante ein Stöckchen aus ihrer Tasche und gab Aglaia damit einen Schlag auf die Hand. Die schrie laut »Aua!« und sah die Gouvernante entsetzt an. Noch nie hatte sie jemand geschlagen. Dann brach sie in Tränen aus. In dem Moment betrat der Graf den Salon.
»Was um Gottes willen machen Sie denn da, sind Sie von allen guten Geistern verlassen?« Auf seiner Stirn schwoll eine dicke Ader, ein sicheres Zeichen außergewöhnlichen Zorns.
»Ich versuche den beiden jungen Damen im Auftrag ihrer Gattin Manieren beizubringen«, antwortete sie spitz.
»So, hat meine Frau Ihnen auch aufgetragen, sie zu schlagen?« Er bebte vor Wut.
»Nun, nicht so direkt …«
»Sie verlassen auf der Stelle das Schloss«, befahl er, jetzt wieder ganz beherrscht. »Man wird Ihnen in der Verwaltung Ihr Gehalt bis Monatsende auszahlen.« Das war das jähe Ende der Ära Mademoiselle Claudes.
Zu Aglaias und Tanyas Erleichterung wurde keine neue Gouvernante angestellt. Stattdessen mussten sie, als sie alt genug waren, die Schule für Höhere Töchter der Leonie von Quasten besuchen – darauf hatte Aglaias Mutter Wilhelmine bestanden.
»Ach Tanyachen, mach dir man um Mama keine Gedanken«, sagte Aglaia jetzt. »Ich werde sie bitten, uns zu entschuldigen. Schließlich bist du ja gerade erst aus Königsberg zurückgekommen.« Aglaia brannte darauf, den neuesten Klatsch aus der Großstadt zu erfahren. Sie war gerade achtzehn geworden, nicht ganz zwei Jahre älter als ihre Cousine und hatte ihre Ausbildung dort bereits vor einiger Zeit beendet.
»Danke, Kurt.« Aglaia lächelte den Diener dankbar an, als er den Salon verließ, um in der Bibliothek einzuheizen. Im Hinausgehen hielt er die Tür auf für Wilhelmine von Wallerstein. »Ah, da bist du ja wieder, Tanya«, begrüßte sie ihre Nichte kühl.
»Ja, Tante Wilhelmine«, sagte Tanya und küsste mit einem tiefen Knicks die Hand ihrer Tante. »Ich bin froh, wieder zuhause zu sein.«
»Nun, ich erwarte, dass Fräulein von Quasten dir anständige Manieren beigebracht hat. Wie ist dein Zeugnis? Ich hoffe …«
»Aber Mamachen!«, fiel ihr Aglaia ins Wort. »Du weißt doch, Tanya ist viel klüger und viel braver als ich. Ihr Zeugnis ist hervorragend.«
»Du sollst so etwas doch nicht sagen.« Flehend sah Tanya ihre Cousine an. Sie wusste, ihre Tante schätzte es gar nicht, wenn sie irgendetwas besser konnte als Aglaia.
»Nun zeig es doch Mama, Tanya.«
Zögernd reichte Tanya Wilhelmine das weiße, mit goldener Schrift beschriebene Büttenpapier. Achtlos legte die es auf den Teetisch. »Ich
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