Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
dahinten, das muss das Fernrohr von Großonkel Archibald sein.« Sie zog ihre zitternde Cousine mit sich, und tatsächlich, da stand es, das Wunderding, leicht verstaubt, aber noch völlig intakt.
In dieser Nacht eröffnete sich den beiden Mädchen eine neue Welt. Sooft sie konnten, schlichen sie nach oben und betrachteten staunend den Himmel. War einmal für längere Zeit schlechtes Wetter, fieberten sie der Nacht entgegen, wenn es endlich wieder klar und ihre Sterne wieder zu sehen waren. Sie hatten gehört, dass sie alle Namen hatten, aber aus Angst, entdeckt zu werden, wagten sie niemanden danach zu fragen.
Eines Abends, sie saßen dicht beieinander und blickten hinauf in das geheimnisvolle Weltall, sagte Aglaia: »Ich glaube, Tanya, es gibt nichts Schöneres auf der Welt als den Himmel über Ostpreußen.«
Tanya nickte schweigend. Drei der unzähligen Himmelskörper erschienen ihnen besonders strahlend. »Onkel Horst hat einmal gesagt, als ich wieder mal so furchtbar traurig war, meine Mama wäre jetzt ein Engel und wohnte auf einem der Sterne. Sieh mal, Aglaia, der da, ganz links, siehst du ihn? Ich glaube, da sitzt meine Mama und schaut auf mich herunter.« Ganz glücklich sah sie in diesem Moment aus. »Ich werde den Stern Ingewild nennen. So hieß nämlich meine Mama.«
»Ich habe eine Idee, Tanya«, sagte nun Aglaia aufgeregt. »Wir suchen uns jetzt jede einen Stern aus, dem wir unseren Namen geben. Und wenn wir mal voneinander getrennt sein sollten …«
Verschreckt klammerte Tanya sich an ihre geliebte Cousine. »Aber du gehst doch nicht weg von mir? Versprich mir das, bitte!«
»Natürlich nicht, du Dummchen«, gab Aglaia altklug zurück, »aber es kann ja mal sein, wenn wir groß sind, und auch nur für kurze Zeit … Also dann gucken wir immer am Abend um zehn Uhr in den Himmel zu unseren Sternen und denken aneinander. Wollen wir uns das versprechen?«
Tanya nickte ernst. »Ganz fest will ich dir das versprechen.«
»Danke, Kurt.« Aglaia hob die Hand, als der Diener ihnen den Tee einschenken wollte. »Wir brauchen dich nicht mehr. Ich mache das selbst.« Sie konnte es kaum erwarten, endlich mit ihrer geliebten Cousine allein zu sein. »Nun erzähl doch«, fragte sie aufgeregt, »was gibt es Neues?« Es klopfte, und Kurt betrat mit Feuerholz erneut den Raum. Während er sich am Kamin zu schaffen machte, kuschelte sich Tanya in den tiefen russischgrün bezogenen Ledersessel. Sie liebte diesen Raum mit seinen unzähligen Büchern, Erstausgaben so vieler berühmter Dichter und Schriftsteller, den dicken Teppichen und dem großen, mit rotem Safranleder bezogenen Schreibtisch. Dort hatte ihr geliebter Onkel Horst sie oft getröstet, wenn Tante Wilhelmine mal wieder streng und ungerecht mit ihr gewesen war. Als sie ganz klein war, hatte sie sich in ihrem Kummer manchmal in dem Mahagonigehäuse der großen Standuhr versteckt und war nur durch gutes Zureden ihres Onkels dazu zu bewegen gewesen, dieses wieder zu verlassen. Immer hatte er ein liebes Wort für sie. Oft, wenn er sie irgendwo leise weinend fand, hörte sie ihn danach mit seiner Frau schelten. Einmal hatte Tanya gelauscht.
»Was hast du nur gegen das arme Kind. Sie kann doch nun wirklich nichts dafür«, hatte sie ihren Onkel sagen hören.
»Man muss streng mit ihr sein! Manche Dinge vererben sich, dem muss Vorschub geleistet werden«, war die Antwort ihrer Tante gewesen. Tanya hatte keine Ahnung, an was sie schuld sein sollte. Auch was sie geerbt haben könnte, war ihr schleierhaft, und irgendwann vergaß sie das Gespräch. Aber was sie nicht vergessen konnte, war, dass ihre Tante sie hasste.
Aglaias Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Was ist Tanya? Nun erzähl schon.« Aglaia reichte ihr eine Tasse heißen Tee. »Kurt ist weg. Also, hat dir Egbert einen Antrag gemacht?« Sie blickte ihre Cousine gespannt an. Die Tasse in Tanyas Hand begann heftig zu zittern, und das zarte Porzellan fing an zu klirren. Ihre Augen füllten sich mit Tränen.
»Nein …« Sie schwieg.
»Aber warum nicht?«, rief Aglaia aufgebracht. »Seit über einem Jahr macht er dir den Hof. Wir … ich … meine Mama rechnet fest mit einer Verlobung.«
»Ich weiß.« Tanya hatte sich wieder gefasst. »Deine Mutter will mich so schnell wie möglich loswerden.«
»Ach Tanyachen …« Aglaia sprang auf und nahm das unglückliche Mädchen in den Arm. »Mama ist manchmal ein bisschen streng mit dir, ich weiß, aber sie meint es doch nur gut, ganz bestimmt.«
Tanya
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