Himmel über Ostpreußen: Schicksalsjahre einer Familie (German Edition)
könnte, wird von Mal zu Mal größer.«
Aglaia lachte auf. »Keine Angst, Papachen, Verehrer gibt es ja genug, aber bis jetzt gefällt mir noch keiner so gut wie du.« Bewundernd betrachtete sie ihren Vater. Was war er doch für ein schöner Mann! Ungewöhnlich groß und schlank, wirkte er wesentlich jünger als zweiundfünfzig. Sein von den täglichen Ausritten leicht gebräuntes Gesicht wurde beherrscht von leuchtend blauen Augen unter buschigen Brauen und einer fein gebogenen, aristokratischen Nase. Auffallend war sein voller, sinnlicher Mund. Die immer noch dunklen Haare waren an den Schläfen leicht ergraut, und sein Gesicht war bis auf einen schmalen, gestutzten Wangenbart glatt rasiert.
»Wo ist Tanya? Sollte sie nicht schon wieder hier sein?«
»Ja, sie ist gestern angekommen. Sie wird gleich da sein, sie war noch nicht ganz mit ihrer Toilette fertig.«
In diesem Moment betrat die Gräfin den Raum. Der Graf erhob sich und küsste seiner Frau die Hand. »Guten Morgen, meine Liebe«, sagte er förmlich »wie ist dein Befinden?«
»Danke, ich möchte nicht klagen.« Sie fächelte sich mit ihrer Serviette Luft zu. »Die fliegende Hitze macht mir zu schaffen. Abscheulich ist das, wirklich abscheulich.« Sie ließ sich von Kurt Tee einschenken. »Und wie war deine Reise, seit wann bist du zurück?«, fuhr sie fort.
Die Tür öffnete sich, und der Graf wandte sich um. »Tanya, meine Kleine, wie schön dich wieder bei uns zu haben.« Er nahm seine Nichte in den Arm.
»Ja, Onkel Horst, ich freue mich auch, wieder hier zu sein«, sagte das junge Mädchen errötend, und an ihre Tante gewandt: »Verzeih, Tante Wilhelmine, dass ich etwas zu spät bin. Aber ich war doch sehr müde.«
Bevor diese etwas sagen konnte, rief der Graf: »Du musst dich doch nicht entschuldigen, mein Kind. Erhol dich jetzt erst mal von dem Drill bei der Quasten.«
»Das hat ja wohl noch keinem geschadet«, murmelte die Gräfin.
Die Bemerkung ignorierend, fragte der Graf: »Nun, Tanya, ich nehme an, du hast ein fabelhaftes Zeugnis. Darf ich es denn mal sehen?«
»Ich habe es Tante Wilhelmine gegeben«, antwortete Tanya schüchtern.
»So, und wie ist es?« Fragend blickte er zu seiner Frau.
»Ich hatte noch keine Zeit, es mir anzusehen«, sagte diese unwirsch.
»Soso, mit was warst du denn so beschäftigt?« Der Graf hob verärgert die Augenbrauen.
»Gestern hatte ich die Kommerzienrätin Heller zum Tee, und Elvira war auch kurz da …«
»Das ist ja hochinteressant!« Die Ironie in seiner Stimme war nicht zu überhören. Bevor er seinem Ärger Luft machen konnte, wurde die Unterhaltung von Kurt unterbrochen, der auf einem silbernen Tablett die Post brachte. »Ah, Jesko Kaulitz kommt mit Eberhard zur Saujagd«, rief der Graf erfreut, als er das erste Couvert geöffnet hatte. »Wir haben uns ja seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen. Eberhard muss jetzt auch schon Anfang zwanzig sein.«
»Er ist vier Jahre älter als ich«, sagte Aglaia. »Tante Elvira hat es mir kürzlich erzählt.«
»Ach, die gute Elvira, wie geht es ihr denn? Durch meine ständigen Reisen nach Berlin sehe ich sie ja kaum noch.« Sie war eine der wenigen Freundinnen seiner Frau, die er mochte. »Wird sie auch zur Saujagd kommen?«
»Ja«, sagte Wilhelmine indigniert, »und wahrscheinlich in einem farbigen Kleid!«
»Und was ist daran so ungewöhnlich, ich meine, was stört dich daran?« Wieder sah er seine Frau fragend an.
»Sie ist schließlich Witwe.« Wilhelmine schnaufte empört.
»Nun lass mal die Kirche im Dorf.« Er wurde jetzt wirklich ärgerlich. »Manfred ist bald zwei Jahre tot …«
»Eineinhalb!«
»Nun dann eben eineinhalb. Aber Elvira ist eine lebenslustige Person. Es ist bestimmt nicht in Manfreds Sinn, dass sie für den Rest ihres Lebens in Trauer versinkt.« Aglaia und Tanya wechselten einen verstohlenen Blick. Die Diskussion wurde ihnen zu ungemütlich. Wilhelmines Gesicht war verdächtig rot angelaufen.
»Dürfen wir aufstehen, Mamachen?«, bat Aglaia. »Du weißt, nach dem Frühstück brauche ich immer frische Luft.« Und ohne eine Antwort abzuwarten, zog sie Tanya mit sich aus dem Zimmer.
Auch der Graf erhob sich. »Verzeih, meine Liebe. Ich habe wichtige Post. Du weißt, die Revolution … Wir sehen uns später.« Eilig verließ auch er den Raum. Die wütende Wilhelmine blieb allein zurück.
Seit Tagen herrschte im Schloss rege Betriebsamkeit. Gästezimmer wurden gelüftet, Betten frisch bezogen, Böden geschrubbt, Regale
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