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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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zum Bahnhof?
    Die 4, sagte sie.
    Warten auf die 4.
    Menschenleere Plattform. Vereinzelt Paare, die aus einem Kino tropften. Wir standen näher als nötig beieinander. Wir standen und bewegten uns beim Reden, es war kalt, und so traten wir von einem Fuß auf den anderen. In diesen stehenden Bewegungen gerieten wir oft aneinander, ungeplant manchmal. Gern hätte ich ihre Hände gefaßt, aber meine steckten in der Manteltasche. Sie hielt es nicht lange aus, wenn wir uns in die Augen schauten. Nach wenigen Sekunden mußte sie abdrehen, dachte, dachte auf die Dächer der Stadt hinaus, dann schaute sie mich wieder an. Weil sie eine Brille trug, gelang es mir leichter. Ich konnte dem Gestell nachschauen, ohne in ihre Augen zu fallen. Dabei sind ihre Augen nicht besonders schön. Sie sind dunkel wie nasser Stein, bei Lichteinfall blauschwarzgrün, belebt durch die Reflexion von Straßenlaternen und Bremslichtern. Die Nasenflügel sind leicht asymmetrisch gewachsen. Ihre Lippen sind schmal, wenn sie nicht spricht; dann habe ich den Eindruck, als hielte sie den Mund zusammengepreßt. Aber die Gesamtheit der Erscheinung, wie sie steht und vor allem wie sie geht in ihrer aufrechten Haltung, dieser biegsame Körper, dieses seltsame Wesen, diese in all ihren Facetten selbstbewußte Frau, empfand ich als höchst erregend.
    Dann eine Umarmung, nichts weiter.
    Das darf man doch. Es gibt Länder, in denen sich die Menschen in den unmöglichsten Situationen in die Arme fallen.
    Ihr spinnwebfeines Haar an meiner Schläfe. Wie schön sie sich anfühlt, wie leicht, zerbrechlich, ein Rücken wie Glas hinter dem Mantelstoff. Diese Stelle gleich vor ihrem Ohr, dieser glatte, weiße, seidige Flecken Haut.
    Wann ist eine Umarmung mehr als eine Umarmung?
    Ich redete mir ein, sie hätte mit der Küsserei begonnen.
    Die Angst, mich aus dieser Haltung zu lösen. Als hätten wir uns voreinander zu verantworten - als gäbe es auf einmal wieder so etwas wie eine Welt, einen bestimmten Ort (Zürich-Bellevue), einen Tag (26. November), eine Zeit (23:30 Uhr).
    Plötzlich bestand sie darauf, meine Augen zu sehen, und stieß mich weg. Mein Gesicht sagte: Hier, da sind sie, meine Augen, nimm sie! Dann schnappte sie nach meinem Mund, hastig, unkontrolliert, wie ein Tier, das zum Kampf auffordert.
    Wir atmeten beide wie nach einem Hundertmeterlauf. Ihre Brille war angelaufen. Das war jetzt nicht gerade hilfreich, sagte sie und brachte ihre Brille wieder in Stellung. Zum Glück kam die Nummer 4. Wir setzten uns in eine der hintersten Reihen. Unsere Hände waren sehr warm. Die idiotische Kraft der Symbole: Mein Ehering muß für die zehn fremden Finger spürbar sein, dachte ich.
    Sie lehnte sich an mich, als wäre ich ihr Lieblingsonkel, und ich küßte sie auf die Stirn, als wäre sie mein kleines Mädchen. Sie beherrschte es meisterhaft, dieses Spiel, das Oszillieren zwischen Mädchen und Frau. Beim Bahnhof stiegen wir aus, und sie mußte mich beim Arm nehmen, um die Straße zu überqueren, so unbeholfen fühlte ich mich auf einmal. Warum erklärte ich ihr nochmals, was Lumpensammler bedeutet? Meine Angst, entdeckt zu werden - und mein Übermut, entdeckt zu werden. Zwei sich ausgleichende Kräfte. Etwas abseits der Wartenden blieben wir stehen. Um uns zu küssen, öffneten wir uns gegenseitig die Mäntel. Die letzte S-Bahn verschluckte die Wartenden, einen nach dem anderen.
    Du weißt, daß du nicht gehen müßtest, sagte sie.
    Dann lösten wir uns voneinander, gingen einige Schritte, ich links, sie rechts, fielen uns aber noch einmal in die Arme, weil sich unsere Wege - mein Weg zum Bahnsteig (nach rechts) und ihr Weg zu ihrer Wohnung (nach links) - notwendigerweise noch einmal kreuzten. Ihre Arme hatten Kraft. Ich dachte: Ich möchte ihren Glaskörper nicht zerbrechen, irgend etwas werde ich noch zerbrechen! Eine meiner Hände verselbständigte sich und fuhr den Pullover entlang an ihre Brust. Mein Zug wartete.
    Ich zwang mich, nicht zurückzuschauen. Vergeblich. Dort ging sie, in der dunklen Straße, eine Frau, deren Geruch ich an meinem Schal trug, ihr Parfüm, ihren verrauchten Atem, auch sie schaute zurück. Ich winkte. Sie winkte nicht. Sie ging nur und schaute mir zu, wie ich winkte. Ich schaute noch einmal zurück, winkte wieder. Dann verschwand sie in der Dunkelheit. Erstmals meine Frau betrogen.
    Time to Destination: 7 Hours 05 Minutes.
    Später behauptete sie, ich hätte mich (aus Anstand) entschuldigt, als meine Hand ihre Brust berührte.
    Time

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