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Himmelreich

Himmelreich

Titel: Himmelreich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Rolf Dobelli
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Sitznachbar entgegnet zum Glück nichts, nur ein Lächeln zum Beweis, daß er verstanden hat und also nicht Amerikaner ist. Wir beginnen stumm, die Messer aus der Verpackung zu reißen.
     
    Knapp einen Monat nach unserer Bellevue-Küsserei - ich war unterdessen im Ausland, geschäftlich, wo ich mir unter anderem vorgenommen hatte, sie zu vergessen, und dies auch mit einer gewissen Hartnäckigkeit verfolgte - Vortrag vor dem Harvard Club in Zürich. Thema: Die Zukunft des Kapitalmarktes. Ich trage ein Hemd mit Manschettenknöpfen, was mir nicht liegt, aber es ist ein schönes Hemd, das sie bisher noch nicht an mir gesehen hat.
    Ich schwitze während des Vortrags. Ich lege das Jackett ab und schwitze weiter. Der Geruch meines Schweißes, während ich rede; und ich denke, so kann ich ihr nicht begegnen. Oft muß ich lachen, laut herauslachen, während ich spreche, und ich frage mich, wie ich bloß auf die Idee gekommen bin, solche Dinge anzunehmen, wie sie auf der Folie stehen (etwa, daß eines Tages Personen wie Aktien gehandelt würden), einiges finde ich gelungen, treffend, ich bin erstaunt, auch ein bißchen stolz auf meinen ausufernden Erfindungsgeist. Anderes finde ich schlecht und überspringe es. Nach dem Vortrag: Fragen und Antworten. Jeder will eine persönliche Antwort. Ich träume von einer Antwortmaschine. Dann Apero. Wie sind Sie ins Banking gekommen, Herr Himmelreich? Welches sind Ihre Führungsprinzipien - viertausend Leute, da muß man schon richtig was draufhaben? Wie definieren Sie Management? Wie definieren Sie Erfolg? Fragen, die mich langweilen. Meine einzige Rettung besteht darin, Antworten zu erfinden, die ich noch nie gegeben habe, unerwartete, nicht falsche, aber ironische. Ich denke, während ich antworte, an Josephine, die jetzt ebenfalls versuchen wird, sich aus einem gesellschaftlichen Anlaß herauszuwinden. Draußen ist es Nacht. Die Bahnhofstraße weihnachtsbeleuchtet. Kaum Passanten.
    Ich schlendere eine Tramschiene entlang und frage mich, warum es nicht möglich ist, zu lieben mit der Leidenschaft einer Pflanze.
    Ich hätte ein Taxi nehmen können, aber ich gehe zu Fuß. Zeit, einen ganzen Abend lang Zeit in meiner Stadt; ich flaniere, als wäre es Paris oder New York - wohin? - Richtung Kunsthaus - warum? - nicht um sie zu suchen, sondern um sie durch Zufall zu finden.
    Bei der Station Neumarkt haben wir uns verabredet. Drei, vier Gestalten unter dem Licht der Tramhaltestelle, sonst kein Mensch weit und breit. Ab und zu ein Auto, das vorbeispritzt, ein Aufbrummen, Aufleuchten. Dann wieder Stille. Noch hätte ich die Unterlassung wählen können, aber ich erkenne sie von weitem. Ihr Gang federnd, balancierend, stolz, kräftig, mit der Bestimmtheit eines jungen Offiziers, aber sehr weiblich.
    Vielleicht sind es die Lederstiefel, die schwarzen, glänzenden, aufregenden Lederstiefel, die ihren Gang zum Spektakel machen. Wir schreiten aufeinander zu, und ich befehle mir: keine Küsse! Nie mehr! Was letzten Monat war, beim Bellevue, war ein Ausrutscher, ein absurdes Sichgehenlassen, wir können uns weiterhin sehen, meinetwegen, aber ohne Zärtlichkeiten - und während ich mir dies einhämmere, Schritt um Schritt, weiß ich, daß ich mir im Innersten wünsche, meinen Vorsatz nicht halten zu können. Ich versuche, ihr Gesicht in der Dunkelheit zu erraten, während wir uns einander nähern. Ich schreite bewußt etwas witzig, überkreuze meine Schritte, dazu idiotische Bewegungen mit meinen Armen, als tanzte ich zu einer inneren Musik. Ich setze alles daran, beschwingt zu erscheinen, ein bißchen albern, und bin es vermutlich sogar. Es ist mir nicht klar, ob ich ihr auf diese Weise gefallen will, um sie zu täuschen, oder ob ich mich selbst täusche, um mir zu gefallen. Mein ganzer Körper ein dummes Flackern. Ich denke, daß ich auf keinen Fall anfangen darf zu schwitzen. Ich denke, daß ich auf keinen Fall umfallen darf, daß ich stark sein muß, gefaßt, kontrolliert, aber gleichzeitig gelassen, spielerisch, beflügelt. Plötzlich steht sie vor mir, eine Frau, erregend, in einem ungewöhnlichen Sinn beherrschend, reif, der Blick, mit dem sie mich bedeckt, verfehlt seine Wirkung nicht. Dann nimmt sie meinen Kopf in ihre Hände.
    Wir überholen mit unseren Küssen das allgemeine Wirtschaftswachstum.
    »Hast du keine Angst, daß dich jemand erkennt?« fragt sie.
    Doch. Aber ich bin lebendig wie seit Jahren nicht mehr.
    Wenn Josephine küßt, dann aggressiv, in vielen kurzen Schüben angreifend,

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