Das Haus an der Montego Bay: Roman (German Edition)
Prolog
Der Kaufmann hätte einen seiner Angestellten in das Lager schicken können, um die Rumfässer zu inspizieren, aber es hätte ihm etwas gefehlt, wenn er nicht täglich die knarrende Treppe hinab in sein Reich gestiegen wäre. Allein die Mischung aus würzigem Eichenholz und herbem Rumaroma! Der vertraute Duft schwebte über allem. Bis ans Ende seiner Tage würde er diesen letzten Kontrollgang am Abend machen.
Noch war an den Tod allerdings nicht zu denken. Der Kaufmann ging schließlich erst auf die vierzig zu, und dank seiner schönen, jungen Frau fühlte er sich in letzter Zeit eher verjüngt als gealtert. Beschwingt schlenderte er zwischen den zu beiden Seiten hoch aufgestapelten Fässern hindurch. Über zwanzig Jahre war er jetzt Herr über das Spirituosenimperium, nachdem sein Vater auf einer Überfahrt zu den karibischen Zuckerrohrinseln über Bord eines Schiffes der Westindischen Flotte gegangen war. Im Jahr 1810 hatte er das Geschäft mit dem Alkohol fast von der Schulbank aus übernehmen müssen. Gemeinsam mit seinem Bruder hatte er es zu voller Blüte gebracht. Der Spirituosenhandel lieferte seinen legendären Rum bis an den Hof des schwedisch-norwegischen Königshauses.
Er war mächtig stolz darauf, dass ihr Rum auch im Rohzustand der geschmacksintensivste und trinkbarste von allen war. Dass ihre Brennmeister auf den Inseln die besten ihres Fachs waren, war seiner Meinung nach einer der wichtigsten Gründe für den Erfolg ihrer Marke, hinzu kam die perfekte Arbeitsteilung zwischen ihm und seinem Bruder. Der war um zwei Jahre älter, der Abenteurer der Familie, und lebte seit dem Tod des Vaters in Christiansted, der Hauptstadt von Saint Croix, wo sich die Brennerei befand. Sein Bruder war zuständig für die firmeneigenen Zuckerrohrplantagen und die Herstellung des Rums, der Kaufmann hingegen kümmerte sich zu Hause in der zweitgrößten Hafenstadt des dänischen Gesamtstaates um den Verkauf, die einheimische Schnapsbrennerei und die Herstellung des dem Europäer mundenden Rums. Durch seine Heirat befand er sich sogar im Besitz eigener Schiffe und war dadurch zum reichsten Gesamthandelskaufmann der Stadt geworden.
Er selbst hatte allerdings zeitlebens keinen Fuß auf eine der Briggs oder gar auf die neue Bark gesetzt, um seinen Bruder im fernen Saint Croix zu besuchen. In diesem Punkt war er abergläubisch, weil sein Vater schließlich bei Sturm über Bord eines solchen Zweimasters gegangen war und sein Seemannsgrab in den Tiefen des Ärmelkanals gefunden hatte. So hatte er seinen Bruder seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Damals war der Bruder nur kurz aus seiner karibischen Heimat zurückgekehrt, um eine reiche Kaufmannstochter aus Kopenhagen zu heiraten. Die Ehe schien nicht besonders glücklich, wie er aus den vielen Briefen schloss, die er aus Saint Croix bekam. Sein Bruder erwähnte seine Frau jedenfalls nie auch nur mit einem einzigen Wort. Bis auf das eine Mal neun Monate nach der Eheschließung, als sie ihm einen Sohn geboren hatte, auf den er sehr stolz war. Endlich ein Erbe! Und dieser Sohn war nun schon vor über einem Jahr von Saint Croix gekommen, um bei ihm, seinem Onkel, im Kontor das Kaufmännische zu erlernen.
Sein Neffe war nicht viel älter als seine Frau und ein von Ehrgeiz getriebener junger Mann. Zwar erwies er sich als geeignet für das Geschäft, doch menschlich war er dem Kaufmann eher fremd geblieben. Er empfand ihn als zu überheblich, und es missfiel ihm, dass er die Angestellten bisweilen wie Sklaven behandelte. Offenbar hatte er dieses Gebaren bei seiner Arbeit auf den Zuckerrohrplantagen übernommen. Ein ewiger Streitpunkt zwischen dem Kaufmann und seinem Neffen. Der Kaufmann lehnte die Sklavenhaltung vehement ab. Sein Neffe war der Meinung, die Herrschaft über die Schwarzen entspränge einem Naturgesetz. Die Dispute führten indessen zu nichts. Sein Neffe war unbeherrscht und verbissen. Der Kaufmann dagegen war ein Lebemann, der den weltlichen Genüssen nicht abgeneigt und dem es zu enervierend war, sich mit diesem Burschen bis aufs Blut zu streiten.
Der Kaufmann seufzte, während er stehen blieb, die mitgebrachte Funzel auf dem Boden abstellte und zwischen zwei Fässern eine Korbflasche Rum hervorholte. Er liebte das herbe Zeug, bevor es mit Wasser vermischt auf Trinkstärke gebracht wurde. Nur so konnte er die holzige Würze herausschmecken. Für ihn war dieser Schluck genauso ein Hochgenuss wie das Pfeiferauchen. Es würde ihm etwas fehlen ohne
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