Himmelsgöttin
den Hals und sah, wie Kimi eingepackt war. »Vielleicht kann ich mich ja rüberschwingen zu dir und mich an deiner Verpackung festhalten. Wenn ich sie zu fassen kriege, kann ich dich vielleicht losmachen.«
»Guter Plan«, sagte Kimi.
»Yankee-Know-how, Kleiner.«
Als Tuck anfing mit den Armen und Beinen zu schaukeln, spürte er, wie die Verschnürung sich um seine Brust zusammenzog. Es dauerte nicht lange, bis er in weiten elliptischen Bahnen umherschwang, an deren Scheitelpunkt er bis auf dreißig Zentimeter an Kimi herankam, doch die Verschnürung war dann so stramm, daß er kaum noch atmen konnte. Zusätzlich geschwächt von Hunger und Durst, gab er auf. »Ich krieg keine Luft«, keuchte er.
»Aber trotzdem guter Plan«, sagte Kimi. »Dann ich lassen Roberto holen Messer bei Tür von Haus da drüben, und ich dann schneiden Stricke durch. Okay?«
»Roberto kann apportieren?«
»Ja.«
»Warum hast du das nicht früher gesagt?«
»Ich wollen sehen Yankee-Know-how.«
Sarapul versuchte zu seiner Hütte zurückzurennen, doch die Schmerzen in seinen alten Knien ließen nicht mehr zu als einen langsamen Trott. Wenn er sich nur die Kräfte eines oder zweier Feinde einverleiben könnte, vielleicht würde der Schmerz dann ja vergehen und seine Kraft zusammen mit seinem Mut zurückkehren. Was er nun am dringendsten brauchte, war Mut. Doch statt dessen hatte er nur Fragen.
Wie kam es, daß, wenn Malink eine Botschaft von Vincent geträumt hatte, die weiße Hexe sagte, das wäre nicht wahr? Und falls Vincent einen Piloten geschickt hatte, warum wußte die Himmelsgöttin nichts von ihm? Und wenn Vincent keinen Piloten geschickt hatte, wer hing dann in seinem Brotfruchtbaum?
In den alten Tagen hätte Sarapul sich an sein Clan-Tier, die Schildkröte, gewandt, um von ihr Antworten auf seine Fragen zu erhalten. Dann hätte er die Wellen betrachtet und auf den Wind gehorcht, um zu hören, was sie ihm zur Antwort gaben. Danach wäre er vielleicht zum Medizinmann gegangen, damit er sie für ihn deutete. Aber nun war er zu taub und zu blind, um irgendein Zeichen zu erkennen. Und der einzige Medizinmann, den es noch gab, war der weiße Mann, der hinter dem großen Zaun lebte und den Haifischmenschen Medikamente gab: Vincents Medizinmann. Sarapul glaubte nicht an Vincent, genausowenig, wie er an den Gott geglaubt hatte, den Vater Rodriguez an einer Kette um seinen Hals getragen hatte.
Vater Rodriguez hatte gesagt, daß die alten Sitten und Gebräuche – die Tabus und die Totemtiere – Lügen seien und daß der dürre weiße Gott an seinem Kreuz der einzige wahre Gott sei. Sarapul war bereit gewesen, ihm zu glauben, ganz besonders dann, als er jedem ein Stück vom Leib Christi anbot. Doch Christus schmeckte wie getrocknete und zerstampfte Wasserbrotfrucht, und Vater Rodriguez' Versuche, den alten Kannibalen zu bekehren, waren in dem Augenblick endgültig gescheitert, als er erklärte, daß man ins ewige Feuer geworfen würde, wenn man irgend jemand anderen aß außer den brösligen, faden Gott am Kreuz.
Dann kamen die Japaner und schlugen Vater Rodriguez den Kopf ab und warfen seinen Gott an der Kette ins Meer. In diesem Augenblick wußte Sarapul ganz sicher, daß Vater Rodriguez die ganze Zeit gelogen hatte. Die Japaner vergewaltigten und töteten Sarapuls Frau und zwangen seine beiden Söhne zur Arbeit beim Bau der Landepiste, bis sie krank wurden und starben. Er fragte die Schildkröte, warum ihm seine Familie geraubt worden war, und als das Zeichen auftauchte in Gestalt einer Wolke, die die Form eines Aales hatte, erklärte der Medizinmann, der Grund sei, daß die Haifischmenschen die Tabus gebrochen, ihre Totemtiere gegessen und Fische in dem verbotenen Riff gefangen hatten – und dies war die Strafe dafür.
In der nächsten Nacht tötete Sarapul einen japanischen Soldaten und baute einen Oom, um ihn zu braten, aber keiner von den Haifischmenschen war bereit, ihm zu helfen. Einige hatten Angst vor dem Gott von Vater Rodriguez, und der Rest hatte Angst vor den Japanern. Sie nahmen die Leiche und verfütterten sie an die Haie, die am Rande des Riffs lebten.
Am Morgen ließen die Japaner den alten Medizinmann und ein Dutzend Kinder antreten und mähten sie mit einem Maschinengewehr nieder. Und Sarapul verlor seinen Verstand.
Dann kamen die amerikanischen Flugzeuge, und es regnete zwei Tage lang Bomben und Feuer vom Himmel. Als der Rauch sich verzog und die Japaner schließlich verschwanden, nahmen sie alle
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