Himmelskinder
anpinkelt. Und bleib locker, sonst tut es zu weh. Du kannst …«
»Vier, wenn du nicht dein Maul hältst, sorge ich dafür, dass du heute Abend mitfährst.«
Als die beiden Mädchen drei Stunden später unter der Dusche stehen, sprechen sie nicht miteinander, schauen sich auch nicht an.
Nummer vier hat Schmerzen und bittet die Frau um eine Tablette, die sie bekommt. Sie legt sich auf ihre Matratze und wartet darauf, dass die Schmerzen weggehen.
Die Tür, die nicht abgeschlossen ist, öffnet sich wieder. Der Bleiche, der bei den Filmen nicht mitmacht, hat ein Bündel auf den Armen, das er langsam auf eine zweite Matratze am Ende des Raumes gleiten lässt.
»Sie hat was bekommen.«
Er verlässt den Raum und schließt ab. Vier setzt sich zu dem Neuzugang. Es ist ein Mädchen, jünger als sie, das sich jetzt bemüht, die Augen zu öffnen. Es spricht mehrmals ein Wort, das nicht zu verstehen ist, dann zeigt es auf seinen Mund, auf seine trockenen Lippen. Nummer vier holt die Flasche mit Wasser und lässt das Mädchen trinken, bis dieses ihr bedeutet, dass es genug sei. Die Neue zeigt auf sich und scheint ihren Namen zu sagen, dann schläft sie wieder ein.
Am nächsten Morgen wird sie wach und hört die Neue zur Tür kriechen, hört ihre Versuche, sie zu öffnen. Mit kraftlosen Bewegungen schlägt sie dagegen, bis eine Faust von der anderen Seite dagegenschlägt:
»Gib Ruhe, Miststück!«
Langsam sinkt die Neue an der Tür in sich zusammen. Sie wimmert.
Vier weiß, wie ihr zumute ist. Letztes Jahr ging es ihr ähnlich. Sie steht auf und will die Neue von der Tür wegziehen, zurück auf die Matratze. Nicht zu glauben, mit wie viel Kraft sie sich wehrt, denkt Nummer vier, und da fallen ihr die kleinen Katzen ein, die ihr Vater ertränken wollte, damals, in der Welt, zu der sie nicht mehr gehört.
Sie hat keine Chance, die Kleine kratzt und beißt, sobald sie ihr zu nahe kommt.
Da kommt ihr der kleine Holzkasten in den Sinn, der mit den eingeschnitzten Blumenmotiven und den Initialen E, F und T. Den hat sie neulich in einem der verfallenen Schuppen gefunden. Sie geht zu ihrer Matratze und holt das Kästchen hervor. Als sie es der anderen zeigt, schaut die Neue nur kurz auf. Nummer vier setzt sich neben sie und öffnet das Kästchen langsam. Jetzt hat sie die Aufmerksamkeit der anderen. Vertrocknetes Gras wird sichtbar, das sie zur Seite schiebt. Da liegen Ohrringe, hübsche silberne Ohrringe mit einem türkisfarbenen Stern in der Mitte.
1
Als Alvermann wach wurde, hatte sich die Decke wie eine Fußfessel um seine Beine geschlungen. Er setzte sich mit einem Ruck auf. Scheißtraum, dachte er. Wieso träume ich nie von der Monroe oder wenigstens von Janne? Als er sich erinnern wollte, was ihn da nachts umtrieb, wichen die Traumbilder hinter die Grenzen seiner Wahrnehmung. Was blieb, war das Empfinden, versagt zu haben.
Träume dieser Art hatte er hin und wieder, und manchmal verließ ihn dieses Gefühl den ganzen Tag nicht mehr, verbiss sich in ihn wie eine wütende Töle.
Aufgebracht strampelte er die Decke von seinen Füßen und schwang die Beine aus dem Bett. Und als ob es noch nicht reichte, meldete sich der wohlbekannte Schmerz oberhalb seines linken Ohres.
Du bist früh dran, scher dich zum Teufel!
Einschüchternde Bilder tauchten unversehens vor ihm auf: ein steriles Krankenzimmer, leer bis auf ein Riesenbett, und mittendrin, klein und grau, er, der Akkordeonist und Polizist Erik Alvermann. Er kniff die Augen zusammen, hielt den Atem an, sah die Kollegen um sein Bett versammelt. »Na endlich, Alvermann, du hast es geschafft, bist raus.« Er hörte sogar die Stimme seines Kollegen Bergen, des Arschkriechers vom Dienst, der besonders mitleidig klang.
Immerhin, meldete sich die Stimme der Vernunft, bist du privat versichert, kurz vor deinem Tod werden sich zumindest Schwestern und Ärzte Mühe mit dir geben. Das war wiederum ermutigend und hoffentlich kein Schnee von gestern, dass wenigstens die Privaten wie Menschen behandelt wurden.
Keine Ausflüge jetzt in die Gesellschaftskritik. Kümmere dich um deine marode Birne. Tief durchatmen, entspannen. Bitte, es wird besser, Augen auf, ablenken.
Sein Blick fiel auf die Gestalt in der Morgendämmerung. Blödsinnige Idee, neben dem Bett einen Spiegel aufzuhängen, stellte er fest. Während seiner Schäferstündchen mit Janne hatte er sowieso noch nie einen Blick hineingeworfen. Und wieso hielt er immer die Füße nach innen gestellt, wie seine Mutter? War das
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