Himmelskinder
erblich? Gut wären auch neue Schlafanzüge. Der hier zum Beispiel, ein violettes Prachtstück mit schwarzen Herzchen, hatte einen Riss am Knie, und die Knöpfe – Junge, Junge, einer hing nur noch an einem Faden. Überhaupt, eine Morgenschönheit war er nicht, um ehrlich zu sein. Dafür war der Schmerz jetzt verschwunden. Also diesmal noch kein Hirn- oder Herzschlag oder was auch immer. Er ließ sich zurückfallen.
Noch fünf Minuten, erlaubte er sich. Nach zehn Minuten redete er sich gut zu, erhob sich und legte mit seinen morgendlichen Übungen los: Sonnengruß für Anfänger, mehrmals, Mondgebet, vereinfachte Ausführung, ebenfalls mehrmals, und Stellung des Kindes immer wieder gerne zwischendurch und besonders ausführlich.
Nach ungefähr fünfzehn Minuten hatte er sein Programm absolviert und atmete wie Frau Nösser vom ersten Stock, die mit dem Asthma. Er betastete kritisch seinen Bauch und meinte, schon die beiden obersten Rippen deutlicher fühlen zu können.
Er ging pinkeln und ließ dann gleich auch Wasser in die Wanne laufen. Wenig später saß er mit seinem ersten Kaffee und der Zeitung von gestern im heißen Wasser – seine Belohnung für die morgendlichen Strapazen.
Schon seit gut vier Wochen verbrachte er den frühen Morgen auf diese Weise. Sein Körper, der die jahrelange friedliche Koexistenz aufgekündigt hatte, dürfte inzwischen mitbekommen haben, dass ein anderer Wind wehte.
Die ersten Anzeichen hatte er ignoriert. Aber dann war Petersen gestorben, nur wenig älter als Alvermann. Umgefallen, einfach so, auf dem Weg vom Dienst nach Hause, hieß es. Noch ein letztes Zucken des großen Muskels, und der Kollege lag einen Meter unter der Erde – in einer engen Holzkiste, keine erbauliche Vorstellung. Dabei war Petersen militanter Nichtraucher und ein richtig netter Kerl gewesen.
»Halt mir ’nen Platz frei da oben, Alvermann«, hatte er noch neulich in der Kantine gelärmt. »Du wirst bestimmt vor mir abberufen, bei dem, was du so in dich reinfrisst. Ich komme später nach und erzähl dir, ob Bergen immer noch drin hockt.«
Er hatte sich mit einem Salatteller zu Alvermann gesetzt, der über zwei Rouladen brütete.
»Der ist so tief drin, der findet den Ausgang auch in dreißig Jahren nicht.«
Für einen Moment hatte er sich Bergen auf der Suche nach dem Ausgang vorgestellt und sich gefragt, ob der ungeliebte Kollege wohl ahnte, zu welch abstrusen Gesprächen er immer wieder Anlass gab.
Petersen hatte Alvermann eingeladen, mit zum Training zu kommen. Er hatte wie so oft eine Ausrede parat gehabt und beherzt mit seiner zweiten Roulade begonnen, als Petersen schon wieder unterwegs war. Nein, gerecht war diese Welt nicht.
Als er nach einer halben Stunde in seine Hose vom Vortag steigen wollte, konnte er förmlich seinen Blutdruck bei der Arbeit beobachten. Der halbe Belag seiner vorabendlichen »Tonno e Cipolla« war auf dem grauen Samtcord gelandet und hatte für einen bemerkenswerten Farbkontrast gesorgt.
Klar, im Dunklen glotzen und essen.
Er fand gewaschene Kleidung auf dem Wäscheständer im Gästezimmer. Die Hose war deutlich zu eng. Ein Ergebnis der Sechzig-Grad-Wäsche, dachte Alvermann; für Hosen zu heiß, hatte wer neulich noch verkündet? Und dass er auf keinen Fall zugenommen hatte. Wie denn auch, wenn das halbe Essen auf seiner Kleidung landete?
Als er gegen 6.40 Uhr auf die Straße trat, war Lotte von gegenüber schon unterwegs. Sie hinkelte, was das Zeug hielt. Alvermann hatte sie in den letzten Wochen öfter gesehen, wenn er vom Dienst kam, aber noch nicht um diese Uhrzeit.
»Lotte, bist du aus dem Bett gefallen?«
Keine Antwort, nur weiteres Gehüpfe zweier dürrer, fünfjähriger Beine. Alvermann überquerte die Straße und stellte sich an den Rand der Kreidekästchen.
»Hallo, Lotte, was ist los? Wo ist deine Mutter?«
Wieder keine Reaktion. Alvermann trat in eines der Kästchen und damit in die Welt der Fünfjährigen ein, von der er so gut wie nichts verstand.
Lotte schubste ihn weg und hüpfte konzentriert weiter. Er kam sich überflüssig vor. Nach einer weiteren Hüpffolge hatte sie ausgehinkelt und konnte sich dem Störenfried zuwenden. Sie hob den Wurfstein auf und zeigte ihn Alvermann.
»Der war doch im Postfach, da muss man totenstill sein. Und die Mama muss Pipi und ist noch zum Klo. Und dann fahren wir zum Adehaze, sonst kriegt sie nämlich Ärger mit den Bullen.«
So stand die Sache also. Dann schien ja alles in Ordnung.
Lotte hatte mit großer
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