Himmelsmechanik (German Edition)
ein Freigeist und ein Rebell. So mochte er sich, als wieder Krieg war, und zwar der zweite, den er erlebte, ganz und gar nicht mit dem Gedanken anfreunden, sich in England in Sicherheit zu bringen, um für die Reichen jenseits des Ärmelkanals Bugattis einzufahren, während die Nazis das Land besetzten, in dem er aufgewachsen war und wo er seine schönsten Rennen gewonnen hatte. Eines Tages begab er sich zu den Musterungsbüros; die von der Musterungsbehörde begriffen, zu was er zu gebrauchen war, und informierten die Kollegen von der Spionage. Die von der Spionage nahmen ihn in die Spezialkräfte auf. Zur Musterung war er mit seinem Freund Benoît gegangen, einem, der ebenfalls Rennen fuhr und sich in England befand, um die Rennen zu gewinnen, die William Grover-Williams nicht mehr gewann. Es ist nicht bekannt, warum es den Spionen in den Sinn kam, es wäre eine gute Idee, eine Gruppe von Sabotagefahrern zu bilden, die über den besetzten Gebieten Frankreichs mit dem Fallschirm abgesetzt werden sollten. Tatsächlich wurden beide im Winter ’41 mitten in Paris mit dem Fallschirm abgesetzt, um als Sabotage-Taxifahrer Widerstand zu leisten. Er war zu schön und zu verrückt, denkt Nita, um diese Arbeit gut zu machen. Nach Ablauf eines Jahres wurde die Gestapo William Grover-Williams’ habhaft und schickte ihn nach Sachsenhausen, ins Lager der Politischen. Wahrscheinlich war das eine Vorzugsbehandlung in Erinnerung an seine Rennen auf dem Nürburgring. In Sachsenhausen erwartete ihn der Omo Nudo.
»Eines Morgens luden sie sie mit Tritten in den Hintern vom Lastwagen, und wir waren schon da und wussten nicht, ob es Nacht oder Tag war.« Sie sahen alle mit großen Augen an, und sie waren alle so schön und sauber, dass sie wie Filmschauspieler aussahen.
Obwohl alle hier die Geschichte vom Omo Nudo und seinem besten Freund kennen, kann sich keiner einen Reim darauf machen, wie sie so große Freunde werden konnten. Der Omo Nudo hegt ein absolutes Desinteresse gegenüber Geschehnissen, die seine Person betreffen, und diesbezüglich kann er uns keine Hilfe sein. Wir wissen nicht einmal, wie dieser Ort wirklich ist, wo sie sich getroffen haben: Er spricht immer von »da oben«, und den Namen Sachsenhausen kennen wir nur, weil er in seinen Briefen steht.
»Da oben war nur Leid und nochmals Leid.«
Man kann sich schwer vorstellen, dass dieser gestandene Mann, der in Paris in der schönen Gesellschaft aufgewachsen war, wo die Seinen ihn schon als großen Champion und Kriegshelden verehrten, sich mit einem Jungen zusammentat, der nicht einmal wusste, warum er »da oben« gelandet war. Wir können uns nicht einmal vorstellen, warum der Champion es akzeptierte, wie der Omo Nudo erzählte, mit den Resten seines Brotes ernährt zu werden.
Der Omo Nudo machte sich kleine Krüstchen, die er heimlich in seine Hosen steckte, und gegen Abend kam er den Champion besuchen, und es wurde getauscht. Dieser aß seine kleinen Krüstchen wie ein wahrer Herr, säuberte sich mit dem Taschentuch, das um seinen Hals hing, und dann fing er zu sprechen an.
Wie der Omo Nudo uns erzählt, klärte ihn der Champion William Grover-Williams über die großen Fragen des Lebens auf, ohne es zu versäumen, ihm Wort für Wort die Nationalhymne seines Landes beizubringen. In welcher Sprache sie miteinander redeten? William Grover-Williams konnte nur deshalb drei Wörter Sizilianisch, weil er einmal die Targa Florio gefahren war.
Er sprach ununterbrochen, doch an manchen Orten wie da oben ist es so, dass du dich verstehst, als wärest du unten auf der Straße, und dann hielt er gewisse Reden, als wäre er ein Heiliger, »und dann sag mir, da muss man ihn doch einfach verstehn, oder?«
Der Omo Nudo sagte nie, wie es endete, doch das ist bekannt: Wie sein Leben ist auch der Tod von William Grover-Williams Teil der Geschichte. Nita erzählt, dass er in den letzten Tagen umgebracht wurde, als die Russen schon kurz vor Berlin standen. In jenen Tagen räumten die Deutschen das Lager in großer Eile, und der Großteil der noch lebenden Gefangenen starb auf dem Marsch. William Grover-Williams ist vor Erschöpfung gestorben, er wurde erschossen, weil er sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte.
Der Omo Nudo sagte, wenn er beim Appell strammstand, kam er ihm vor wie ein kleines Kind. »Und nicht etwa, weil er keine Kraft gehabt hätte; Tatsache ist, dass er sie nur in seinen Händen hatte.« Denn mit seinen Händen konnte er einen Stein in zwei Teile brechen,
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