Himmelsnah - eShort zu Himmelsfern
Mädchen gewesen war, hatte ihre Mutter beinah täglich mit ihm geschimpft, da er ihr immer auch dann noch vorlas, wenn sie längst hätte schlafen sollen. Er war in einem Alter Vater geworden, in dem andere schon Enkelkinder hatten. Inzwischen ließen seine Augen immer weiter nach, und trotz Brille war das Lesen für ihn kaum mehr möglich. Die Idee, das Buch auszuleihen und für ihn als Hörbuch einzulesen, kam Anna spontan und begeisterte sie so sehr, dass sie die Vorsicht, zu der sie sich vor der Fahrt in die Bücherei gemahnt hatte, völlig außer Acht ließ. Ihr Vater würde sich so sehr freuen und sie könnte ihm endlich etwas von dem zurückgeben, was er ihr als Kind geschenkt hatte. Zumindest, dachte sie, war sie dann nicht vollkommen umsonst hergekommen. Sie drehte sich um und wäre fast auf das schmale Büchlein getreten, das auf den Boden gefallen war. Rasch bückte sie sich danach und streckte die Hand aus. Ehe sie es berührte, wurde sie sich des Titels gewahr, und mit einem Mal setzte ihr Herz einen Schlag aus, um dann hastig loszupoltern.
Windsbraut stand unscheinbar in schwarzem Druck auf grauem Pappeinband. Sonst nichts. Kein Herausgeber, kein Verlag und kein Autor. Anna hob das Buch auf, es haftete leicht am schmierigen Boden. Als sie es umdrehte, stand auch auf der Rückseite nichts weiter als der Titel. Windsbraut . Es war das geheime Buch. Sie hatte es gefunden. Und es war viel kleiner und schmaler, als sie geglaubt hatte. Das machte es leichter.
Anna sah durch die Regale über eine Reihe Bücher hinweg. Frau Pasch war hinter ihrem Tresen kaum zu erkennen, nur anhand ihrer Haare und dem nach vorne gebeugten Kopf konnte Anna ausmachen, dass die Bibliothekarin immer noch mit der Nase in ihrem Rätselheft steckte. Anna war für die Frau nicht zu sehen. Schnell, aber ohne sich durch hastige Bewegungen zu verraten, öffnete sie ihre Jeansjacke und schob das Windsbraut-Buch in die Innentasche. Ihr Magen fühlte sich dabei so flau an, als hätte sie seit Tagen nichts gegessen, und sie hatte den Drang zu schlucken, konnte aber nicht, da sich kaum Speichel in ihrem Mund bildete.
Es war das erste Mal, dass sie etwas stahl.
Unschlüssig hielt sie noch immer den Jules-Vernes-Roman in der Hand. Leg ihn zurück! , befahl ihr eine innere Stimme. Stell das Buch ins Regal und verschwinde von hier.
Ein Buch zu klauen und ein anderes in aller Ruhe auszuleihen, war der Gipfel an Unverfrorenheit. Doch ehe sie darüber nachdenken konnte, räusperte sich die alte Frau Pasch.
»Hast du endlich gefunden, was du suchst? Ich wollte jetzt zumachen.«
Annas Hände schwitzten. Sie rief ein leises, heiser klingendes »Ja« und ging mit dem Jules Vernes zum Tresen.
»Wenn du unter achtzehn bist, brauche ich eine Unterschrift von deinen Eltern.« Frau Pasch schob ihr einen Anmeldebogen hin.
»Ich bin seit zwei Monaten volljährig«, murmelte Anna, kritzelte ihren Namen und ihre Adresse auf das Papier und legte ihren Ausweis zum Abgleich daneben. Ach je, was tat sie denn hier? Frau Pasch würde doch merken, dass sie sich mit einem anderen Namen vorgestellt hatte. Das Buch in ihrer Innentasche beulte den Stoff aus, minimal nur, aber genug, um wahrgenommen zu werden und dafür zu sorgen, dass Anna ein Tropfen Schweiß das Rückgrat herabrann.
Wenn die Bibliothekarin irgendetwas merkte, dann ließ sie es sich zumindest nicht anmerken. Sie scannte das Buch mit einem Gerät ein, das mit Sicherheit um einiges älter war als Anna. Es piepste wie eine sterbende Maus, als der Strichcode eingelesen wurde.
Es tut mir leid , dachte Anna. Das geklaute Buch schien sich in Stein verwandelt zu haben und hundert Kilo zu wiegen.
Anna stieg in den ersten Zug, der sie zurück nach Hause brachte. Sie ließ das Buch, wo es war. Die ganze Fahrt über spürte sie es in der Innentasche ihrer dünnen Jacke und hatte das diffuse Gefühl, es würde abwechselnd heiß und eisig kalt werden. Es musste ihr schlechtes Gewissen sein, das ihr den Eindruck vermittelte, die Menschen würden sie anstarren. Weil sie ein verbotenes Buch an ihrer Brust trug. Weil sie das verbotene Buch auch noch gestohlen hatte. Weil sie eine verdammte Diebin war.
Das ordnungsgemäß ausgeliehene zweite Buch dagegen schien sie zu verhöhnen. Ihr Vater würde feuchte Augen bekommen vor Freude über das Geschenk, das sie ihm machen wollte. Aber er würde weinen, wenn er wüsste, warum sie wirklich in der Bibliothek gewesen war.
II
»Was ist passiert?« Corbin nahm Annas
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