Himmelsnah - eShort zu Himmelsfern
Weg zu Corbins Wohnung hing Anna ihren Gedanken nach. Corbin hatte ihr den Rucksack abgenommen, als ahnte er, wie schwer das Buch sich für Anna anfühlte. Er trug den Jack-Wolfskin-Rucksack lässig an einem Träger über der rechten Schulter, als wöge er überhaupt nichts. Aber Anna entging nicht, dass auch Corbin ihn bewegte, als läge etwas Gefährliches darin. Etwas Lebendiges. Oder etwas, das jederzeit explodieren konnte.
»Wie lange kannst du heute bleiben?«, fragte Corbin, während er das Vorhängeschloss öffnete, das mittels einer abenteuerlichen Konstruktion Marke Eigenbau seine Haustür sicherte. Die war einmal eine Kellertür gewesen und führte durch eine schmutzige Waschküche in den Flur.
»Balletttag«, antwortete Anna. Corbin sagte das genug und er lächelte, denn es bedeutete, dass Annas Eltern ihre Tochter nicht vor sieben Uhr abends erwarteten und dass ein Anruf und eine winzige Lüge ausreichen würden, damit sie länger bleiben konnte – so lange sie wollte.
Seit acht Monaten ging Anna nicht mehr zum Ballett. Ihr schlechtes Gewissen hielt sich in Grenzen, sie war inzwischen volljährig und niemand hätte ihr verbieten können, sich mit Corbin zu treffen. Auch wenn er ein Hausbesetzer und arbeitslos war und zudem aussah wie eine Mischung aus Goth und Punk. Sie verheimlichte es nicht, weil sie keine Lust auf Diskussionen mit ihren Eltern hatte, sondern weil nicht die geringste Aussicht darauf bestand, dass diese es irgendwann verstehen würden. Vor Jahren hatten sie Anna zu einer Therapeutin geschickt, weil sie ein Poster von Green Day zwischen die Ballettfotos in ihrem Zimmer hatte aufhängen wollen und weil sie die düstere Romantik von Edgar Allan Poe mochte. In allem, was Anna-Lena tat, sahen ihre Eltern Hilfeschreie, weil sie vermuteten, dass ihre Tochter mit ihrem gesetzten Alter nicht zurechtkam und Angst hatte, ihre Eltern würden sterben.
Anna hatte gelernt, sich sehr, sehr leise zu verhalten.
Sie folgte Corbin in sein Zimmer, an dessen Tür eine aufgesprühte E-Gitarre prangte. Nach wie vor hatte sie sich nicht an Corbins Wohnverhältnisse gewöhnt. Statt einem Bett stand eine Klappcouch vom Sperrmüll unter der Dachschräge und dort, wo sich bei Anna Korbsessel und Sitzkissen um ein niedriges Tischchen gruppierten, lagen hier Pappstücke auf dem nackten Estrich, damit man sich nicht den Hintern abfror. Es dauerte immer ein wenig, bis die Beklemmung von ihr abließ und sie sich entspannte, oft genug geschah das erst, wenn Corbin die Gitarre nahm, ihr etwas vorspielte und sang. Corbin besaß genug Geld, um sich alles zu kaufen, was er haben wollte. Mobiliar zählte einfach nicht dazu; allein die Tatsache, dass er über ein halbes Jahr lang in demselben Haus lebte, war ein Zugeständnis an sie. Ihr Freund war eine rastlose Seele, ständig vorwärts gelockt von einer unklaren Zukunft oder getrieben von seiner Vergangenheit. Anna hatte nie herausgefunden, ob das eine oder das andere zutraf. Vermutlich wusste er es selbst nicht. Nein, wahrscheinlich war es ihm egal.
Corbin drückte seine Zimmertür mit dem Ellbogen zu und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. »Wir müssen das nicht tun«, sagte er.
Sie wusste, was er meinte: Das Buch lesen. Es könnten Dinge darin stehen, die keiner von ihnen wissen wollte. Dinge über ihn, über das, was er war. Corbin hatte ihr alles erzählt, was er wusste, doch das war nicht viel. Ihr war es genug. Fast mehr, als sie ertragen konnte, denn dass er sie in diesem Sommer verlassen musste – höchstwahrscheinlich für immer –, war fest mit ihm und der Frage verbunden, was er war. Anna akzeptierte es nur, weil ihr keine andere Wahl blieb. Zwang sie ihn zu bleiben, zwang sie ihn, für sie zu sterben.
Corbin war kein Mensch. Zunächst hatte sie nicht wirklich daran geglaubt, aber er tat es, und sie war dazu erzogen worden, die Überzeugungen anderer ernst zu nehmen. Wann Anna begonnen hatte, so zu denken wie er, konnte sie nicht sagen; Corbins Glaube hatte sich ohne ihr Wissen still und unauffällig in ihren Geist geschlichen, dort eingenistet und ausgebreitet und war für sie inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden.
»Ich hoffe eben auf ein Wunder, Corbin.«
»Aber was, wenn wir kein Wunder darin finden, sondern schreckliche Geschichten über andere unserer Art. Über das, was sie getan haben.«
»Das sind keine Geschichten von dir.«
»Aber von meinen Vorfahren.«
»Die sind mir doch egal.« Sie trat vor ihn, legte ihre Hände in
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