Himmelsnah - eShort zu Himmelsfern
seinen Nacken und strich mit den Fingern ihrer rechten langsam seinen Hinterkopf hoch, fuhr über sein kurzes schwarzes Haar und strich es dort, wo es am Oberkopf länger und stachelig hochgestylt war, flach nach vorne. Er erschauderte unter ihrer Berührung und ein kleines Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln.
»Wir könnten Monster sein.«
Anna küsste ihn dort, wo ein kleines Grübchen seine Wange furchte. »Ist mir auch egal.«
»Schreckliche Ungeheuer.«
»Schrecklich egal.«
Er umschlang sie mit den Armen und küsste sie sehr lange, ehe er sich behutsam von ihr löste. »Ich habe Angst, dass etwas darin steht, das dich erschreckt. Ich kann mit allem Möglichen klarkommen, immerhin weiß ich, seit ich denken kann, dass ich kein normaler Mensch bin, aber du … du musstest schon so vieles hinnehmen und verarbeiten. Irgendwo muss deine Grenze liegen, kleine Eule.«
Sie musste lächeln, wie immer, wenn er sie so nannte. Als sie sich kennengelernt hatten, hatte sie noch keine Kontaktlinsen getragen, sondern eine Brille, die ihre Augen groß und rund wie die einer Eule erscheinen ließen. Corbin war der Erste und Einzige, der darüber Scherze machen durfte.
»Ich stecke das weg«, beharrte sie. »Nichts macht mir größere Angst, als eine Chance zu verpassen, die dir erlaubt zu bleiben.« Und wenn es nur ein Jahr ist …
»Dann lesen wir es.«
Ihr Herz schlug schneller. »Jetzt sofort?«
»Haben wir Zeit zu verlieren?«
Anna sah aus dem Fenster in einen strahlend hellen Tag. Draußen mochten die Temperaturen noch frisch sein, doch hier, in Corbins Umarmung, war ihr bereits bedenklich warm. Der Sommer kam, und bevor er ganz vorbei war, wäre sie wieder allein. Sie schmiegte sich an Corbins Brust und fuhr mit den Händen unter sein T-Shirt, um seine Haut zu spüren. »Eigentlich bleibt uns nur so wenig Zeit, dass wir sie nicht mit Lesen verschwenden dürfen.«
Sein Lächeln bekam etwas Diebisches. »Da sind wir endlich mal ganz einer Meinung. Ich schlage stattdessen vor …« Doch dann hielt er plötzlich inne und lauschte. Seine Muskeln verspannten sich unter Annas Berührungen. Sie hörte es kurz nach ihm: Jemand war an der Tür. Das Metall des Schlosses knirschte, Holz schrammte über den Boden.
Corbins Miene versteinerte und Anna hielt die Luft an. Sie mahnte sich zur Ruhe – sicher war es nur Marlon. Doch zu oft hatte sie miterlebt, wie viel Furcht Corbin empfand, wenn sein Bruder zu ungewohnter Zeit nach Hause kam oder seine Schritte durch neue Schuhe anders klangen als gewöhnlich. In jedem Moment, in dem ihm auch nur das kleinste Detail unvertraut erschien, rechnete Corbin mit einem Angriff. Seine Vorsicht, die die Grenzen zur Angst längst überschritten hatte, war auf Anna abgefärbt.
Unsere Feinde sind überall und nirgends, hatte er ihr einmal zugeflüstert, und das Echo der Worte klang in ihr wider, wann immer jemand Fremdes sie ansah oder Schritte hinter ihr auf dem Boden hallten.
Corbin verharrte, den Hinterkopf an die Tür gelehnt. Gut hörbar wurde die Wohnungstür aufgeschoben. Sein Blick flog kurz und zielstrebig in Richtung Schlafcouch. Anna wusste, dass dort seine Waffe lag. Ihre Knie waren weich, doch sie traute sich nicht, auch nur einen kleinen Schritt zur Seite zu machen. So oft schon war es falscher Alarm gewesen, aber das beruhigte sie kein bisschen. Eher steigerte es die Besorgnis. Irgendwann würde jemand nachlässiger werden. Und dann …
Plötzlich atmete Corbin aus, die Anspannung fiel sichtlich von ihm ab. Anna wurde schwindelig vor Erleichterung.
»Marlon?«, rief er.
Auf unsicheren Beinen tappte Anna zur Couch, während Corbin die Tür öffnete.
Corbins jüngerer Bruder gab einen undeutlichen Laut der Bestätigung von sich und kam ins Zimmer.
Verhalten begrüßte sie ihn und widmete ihre Aufmerksamkeit ihren Fingernägeln. Immer, wenn sie Marlon sah, lief vor ihrem inneren Auge eine Folge von Bildern wie eine beunruhigende Diashow ab. Marlon war sechzehn, konnte Laute in Steinen hören, sprach selten, weil er stotterte, und konnte ohne Übertreibung als misstrauischster Junge der Stadt bezeichnet werden. Sie empfand ihm gegenüber eine Mischung aus Mitleid – denn auch er würde bald schon seinen Bruder und damit seinen Halt verlieren –, Abscheu und Angst. Vor einem halben Jahr noch war Marlon sich sicher gewesen, Anna sei eine Spionin der Feinde. Nur ein bösartig inszeniertes Theaterspiel, bei dem Corbin eine Narbe davongetragen hatte, konnte Marlon
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