Himmelsnah - eShort zu Himmelsfern
herum, schnell und fließend wie ein Tänzer.
Wieder zerfetzte ein Schuss die Stille. So laut war er, dass Annas ganzer Körper durchgeschüttelt und gegen die Wand in ihrem Rücken gestoßen wurde. Das Pfefferspray fiel ihr aus der Hand. Der junge Mann starrte sie an. Er sah wirklich wie ein Tänzer aus; ach, wie ironisch das war! Schlank, aber muskulös und auf männliche Art zart, wie die wenigen jungen Männer im Ballett. Sein blondes Haar fiel ihm in die Stirn, als er den Blick auf den Boden senkte. »Scheiße. Das war ein CS-Gas. Ein CS-Gas! Keine Waffe. Ich dachte …«
Anna spürte warme Hitze am Bauch, zwischen ihren Beinen und an den Oberschenkeln. Das musste Blut sein. Ihr Blut. Sie spürte viel davon, viel zu viel, aber keine Wunde. Keinen Schmerz.
So ist es zu sterben? Sie war eher verblüfft als verängstigt. Sie versuchte, zu Corbin hinüberzusehen, aber so weit reichte ihr Blick nicht mehr. Sie nahm gerade noch wahr, dass jemand schrie und dass die beiden Männer davonrannten, dass der Asphalt kühl und rau an ihrer Wange lag und dass sie nun beten musste, damit Corbin nichts geschah. Beten half manchmal, sagte ihr Vater, und es half immer ein klitzekleines bisschen, wenn man selbstlos um etwas wirklich Wichtiges betete.
Anna schloss ihre Augen zum Beten.
IV
Marlon schloss die Augen, da sie durch die Hitze so sehr tränten, dass er ohnehin nichts mehr sah. Das Windsbraut- Buch knisterte und verströmte beim Verbrennen den Geruch von angesengten Haaren oder Federn. Als wäre es lebendig.
Doch es war nur ein Buch. Und es hatte ein Leben gekostet.
Anna-Lena wurde in diesem Augenblick auf dem Südfriedhof begraben.
»Ich sollte da sein, auf diesem Friedhof«, sagte Corbin leise, das Feuerrauschen verschluckte seine Worte beinahe. »Aber ich traue mich nicht. Ich bin doch schuld. Wie soll ich unter denen stehen, die nur das Beste für Anna wollten, wenn ich es war, der sie umgebracht hat?«
Das hast du nicht, wollte Marlon erwidern, aber wie so oft, wenn es darauf ankam, bekam er kein Wort über die Lippen. Vielleicht auch, weil er sich der Worte nicht sicher war. Er kämpfte und verlor, kämpfte und verlor, kämpfte und …
»Du … du b-b-b-bist nicht …«
Keine Antwort. Und als Marlon die Augen wieder öffnete, war Corbin bereits verschwunden.
Marlon zog das Foto aus der Innentasche seiner Jacke, das Corbin von Anna und ihm aufgenommen hatte. Alle Spuren von ihr vernichten. So hatte der Plan gelautet. Sichergehen. Marlon hatte Corbin zugestimmt und das Foto dann doch aus einem Impuls heraus eingesteckt. Als Erinnerung, selbst niemals denselben Fehler zu machen.
Seine Zeit war ohnehin bald abgelaufen. Diese letzten Jahre konnte er auch noch allein bleiben.
Marlon drückte das Bild an seine Brust und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
Der Himmel würde alles wiedergutmachen.
Jennifer Benkau lebt mit ihrem Mann, drei Kindern und zwei Katzen inmitten lauter Musik und vieler Bücher im Rheinland. Nachdem sie in ihrer Kindheit Geschichten in eine Schreibmaschine gehämmert hatte, verfiel sie pünktlich zum Erwachsenwerden in einen literarischen Dornröschenschlaf, aus dem sie zehn Jahre später, an einem verregneten Dezembermorgen, von ihrer ersten Romanidee stürmisch wachgeküsst wurde. Von dem Moment an gab es kein Halten mehr.
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Mobipocket ISBN 978-3-7320-0030-2
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