Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Vaterstadt und ging mit sechzehn Jahren nach Bern, um auf Wunsch des Vaters Jurisprudenz zu studieren. Dort aber lernte er den Hamburger Mathematik- und Astronomieprofessor Johann Georg Tralles kennen, dessen Vorlesungen wesentlich spannender waren als die Juristerei. Zwischen den jungen Männern – der gestrenge norddeutsche Professor war dreiundzwanzig Jahre alt, sein eifriger Lieblingsstudent sieben Jahre jünger – entwickelte sich eine enge Freundschaft. Bald ließen sie Theorie und Hörsaal hinter sich und gingen in die schweizerische Berglandschaft hinaus, bestimmten die Höhe der umliegenden Berge, die Tiefe der Seen und deren Breitengrade – und dann begannen sie das ehrgeizige Unternehmen, auf eigene Faust eine exakte Landkarte des Kantons Bern zu zeichnen; denn bis dahin gab es von der schweizerischen Berglandschaft nicht viel mehr als ein paar grob geschätzte Landschaftsbilder aus der Vogelperspektive. Als Erstes vermaßen Tralles und Hassler mittels einer Stahlkette im Moor zwischen Murtenund Neuenburger See eine Strecke von 40 188 Pariser Fuß (13,546 458 Kilometer). Von da aus sollte das ganze Land in riesige Dreiecke aufgeteilt werden, welche dann in immer kleinere Dreiecke zerteilt würden. Von den Endpunkten der vermessenen Grundlinie aus nahmen sie mit dem Theodoliten die Gipfel des nahen Jura ins Visier, bestimmten den Winkel zur Basis sowie den Höhenwinkel und errechneten daraus mit großer Genauigkeit die Entfernung.
Das war ein sehr exaktes, aber auch zeitraubendes und kostspieliges Verfahren. Ferdinand Hassler war nicht nur mit Hingabe bei der Sache, sondern bestritt auch, da Professor Tralles kein Geld besaß, sämtliche Kosten aus der eigenen, das heißt väterlichen Tasche.
Vorerst schritten die Arbeiten gut voran. Im Frühling 1798 aber marschierten französische Truppen in die Schweiz ein und nahmen das alte, stolze Bern binnen vier Tagen ein. An kartographische Messungen war nicht mehr zu denken. Ferdinand Hassler zog sich in sein Heimatstädtchen Aarau zurück und heiratete die Berner Lehrerstochter Marianne Gaillard, die ihm in den folgenden siebzehn Jahren mit großer Regelmäßigkeit alle zwei Jahre ein Kind schenken sollte. Sie machte starken Eindruck auf die Aarauer Bürger, weil sie sehr schön singen und Klavier spielen konnte; die Bürgersfrauen hingegen bemängelten, dass die Hasslerin«sich aber blutwenig mit ihren Kindern und dem Hauswesen abgab». Der junge Ehemann seinerseits wartete auf den Augenblick, da die französischen Besatzer ihm und Professor Tralles den Auftrag erteilen würden, das begonnene Kartenwerk fertigzustellen.
Währenddessen hatte Marie Tussaud in Paris die Erfahrung machen müssen, dass Ehemann François keineswegs der verlässliche Lebensgefährte war, den sie sich nach dem Tod ihres väterlichen Beschützers Curtius gewünscht hatte. Zwar liebten sie einander weiterhin leidenschaftlich, und ihre Briefe waren auch im zweiten, dritten und fünften Ehejahr noch voller Liebesschwüre. Nach dem frühen Tod der erstgeborenen Tochter kamen in rascher Folge die Söhne Joseph und François junior zur Welt. Immer mehr aber erbitterte es die alemannisch arbeitsame Marie, dass der Vater ihrer Kinder sich kein bisschen fürs Geschäft interessierte, sondern im Gegenteil viel Geld beim Kartenspiel verlor und Schulden machte, für die sie dann geradestehen musste.
Hinzu kam, dass die Geschäfte schlecht liefen, weil Marie die größten Attraktionen aus dem Wachsfigurenkabinett hatte entfernen müssen. Nach dem Sturm auf die Bastille hatte sie die Modelle der königlichen Familie im Keller versteckt, um nicht als Royalistin auf der Guillotine zu enden, und als die Revolution ihre eigenen Kinder fraß, hatte sie nacheinander auch die Portraits Dantons, Marats und Robespierres in den Keller getragen. Was übrig blieb, war wenig aufregend und lockte nur spärlich Besucher an – umso mehr, als in der Nachbarschaft Bordelle, Spielkasinos und Tanzlokale wie Pilze aus dem Boden schossen.
Erst blieb das Geld aus, dann begannen die Gläubiger zu drängen. Ende 1802 aber, als Marie schon daran dachte, ihren Salon de Cire zu schließen, kam in höchster Not die Rettung: Ein Schausteller aus London lud sie ein, ihre Wachsköpfe – die königlichen wie die revolutionären – gegen gutes Geld in seinem Etablissement auszustellen.
Das war nun ein Angebot, das für Marie eigentlich nicht in Frage kam. Erstens musste sie sich ums Geschäft kümmern, zweitens um die zwei
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