Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
Söhne und ihre alte Mutter, drittens konnte sie diese Aufgaben nicht ihrem liederlichen Ehemann überlassen. Viertens sprach sie kein Wort Englisch, und fünftens hatte sie Paris und Versailles seit bald dreißig Jahren kaum mehr verlassen.
Doch angesichts ihrer verzweifelten finanziellen Lage nahm Marie Tussaud das Angebot an, ging in den Keller und machte ihre Wachsportraits reisefertig. So kam es, dass die Konterfeis von Ludwig XVI., Marie Antoinette, Marat, Danton und Robespierre einträchtig nebeneinander strohgepolstert in massiven Holzkisten per Postkutsche nach Calais reisten, begleitet übrigens von einer originalen Klinge der Guillotine, einem blutgetränkten Hemd eines Schweizer Gardisten und einem maßstabgetreuen Nachbau der Bastille. Ihren vierjährigen Sohn Joseph nahm Marie mit, den zweijährigen François, die Mutter und das Wachsfigurenkabinett ließ sie in Gottes Namen in der Obhut des Ehemanns zurück. Im Mai 1802 ging sie mit insgesamt siebzig Ausstellungsstücken in Dover an Land – nicht ahnend, dass sie nie wieder aufs europäische Festland zurückkehren würde.
Während Marie Tussaud in der Postkutsche nach London fuhr, zerschlug sich in Aarau für Ferdinand Hassler jede Hoffnung, dass er je eine Landkarte der Schweiz würde erstellen können. Der französische Kriegsminister Berthier nämlich verordnete, dass nicht schweizerische, sondern französische Ingenieure das Werk zu übernehmen hätten, und schickte auch gleich sechzig«Chefs de Génie»nach Bern. Professor Tralles legte sofort seine Professur nieder und ging nach Berlin an die Akademie der Wissenschaften. Ferdinand Hassler blieb allein zurück und war bitter enttäuscht – vom Professor, von Frankreich und der Schweiz, von der Politik im Allgemeinen und den Wissenschaften im Besonderen, von der Weltgeschichte überhaupt und vom ganzen alten, blutigen, treulosen Kontinent Europa. Er beschloss, nach Amerika auszuwandern.
Im Frühling 1804 machte der Heimatmüde die Bekanntschaft des Lausanner Industriellensohns Jacques Marcel, der ihm einen kühnen Plan unterbreitete: Sie sollten zusammen hundert oder zweihundert Quadratkilometer Ackerland am Mississippi kaufen und eine Schweizer Kolonie gründen. Hassler sollte Geld vorstrecken und Kolonisten anwerben, Marcel würde vorausreisen und Land kaufen. Am 1. Mai 1804 wurde in Aarau eine Aktiengesellschaft gegründet, an der sich neben Marcel und Hassler mehrere notable Aarauer Bürger beteiligten.
Vorerst lief alles nach Plan. Marcel verschwand mit dem Geld über den Atlantik, Hassler folgte ihm ein halbes Jahr später, begleitet von Ehefrau Marianne und ihren vier gemeinsamen Kindern sowie ein paar Bediensteten, sechsundneunzig Koffern Handgepäck und vielen schönen Hoffnungen. Nach zweimonatiger Überfahrt an Bord der Liberty trafen sie am 18. Oktober im Hafen von Philadelphia ein.
Dort aber erwartete die Kolonisten eine herbe Enttäuschung: Das Geld war weg. Jacques Marcel hatte es angeblich in unkündbaren öffentlichen Anleihen angelegt oder sich sonstwie verspekuliert oder alles für sich beiseitegeschafft – jedenfalls war es weg. Wahrscheinlich zerstritten sie sich ziemlich rasch. Zwar schrieben Hassler und Marcel noch am 20. Februar 1806 gemeinsam einen Brief an Präsident Thomas Jefferson, in dem sie ihn um Unterstützung beim Landkauf baten. Aber schon eine Woche später schickte Hassler heimlich einen zweiten Brief hinterher. Darin ließ er den Präsidenten wissen, dass er als Direktor der Kolonie nicht unbedingt ständig vor Ort sein müsse und er in der übrigen Zeit gern als Kartograph im Dienst der USA arbeiten würde.
Da Jefferson nichts von sich hören ließ, mussten die Direktoren schauen, wie sie überlebten. Marcel und seine Frau eröffneten in Charleston, South Carolina, einen Lebensmittelladen, in dem sie viele Jahre leben und drei Kinder großziehen sollten. Hassler verkaufte eins ums andere seiner dreitausend wissenschaftlichen Bücher, und um sich als Kartograph zu empfehlen, hielt er Referate in der Philosophischen Gesellschaft Philadelphias, deren prominentestes Mitglied Thomas Jefferson war. Rasch erreichte er, dass einflussreiche Mitglieder Interesse für die Kartographie entwickelten und dem Präsidenten in langen Briefen darlegten, wie wichtig es für die amerikanische Wirtschaft und deren Schifffahrt sei, die zerklüftete Ostküste der jungen Nation präzise zu vermessen. Tatsächlich hatte der Außenhandel seit dem Ende des
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