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Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer

Titel: Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex Capus
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Roben, wie das bei Damen ihres Standes üblich war, meist nur einen oder zwei Tage und überließ sie dann großzügig ihrer Zofe, weshalb Marie fast genauso prächtig gekleidet war wie ihre Herrin. Auch nannte sie sich nun nicht mehr Marie Roux, sondern vornehmer Maria de Roux. Von Weitem betrachtet, schien es fast, als hätte die Oberschicht sie als eine der Ihren aufgenommen.
    Aber natürlich war das nicht so.
    Das erfuhr Marie jeden Abend beim Zubettgehen, wenn sie in ihre ungeheizte Kammer unter dem Dach stieg. Sie war ein kluges und waches Mädchen und sich darüber im Klaren, dass sie stets bleiben würde, was sie nun einmal war – ein rechtloses Dienstmädchen, das jederzeit in der Gosse landen konnte. Denn den Prinzen, der sie auf sein Schloss entführte und heiratete, gab es im richtigen Leben nicht. Das Beste, worauf sie realistischerweise hoffen konnte, war ein Handwerker oder Kleinbürger, der sie in den Stand einer Ehefrau erhob.
    Marie hielt Ausschau. Und eines Tages lernte sie den Zollbeamten Patrick O’Connor kennen, der diese Begegnung mit dem Leben bezahlen sollte.
    O’Connor war alles andere als ein Prinz – ein ältlicher Junggeselle von fünfzig Jahren mit falschen Zähnen und einer mächtigen Hakennase, der als Zollbeamter in den Londoner Docks arbeitete und nebenbei mit geschmuggeltem Tabak und Zigarren ein Vermögen von zwanzigtausend Pfund ergaunert hatte. Er verlieh Geld zu horrenden Zinsen und hatte die unangenehme Gewohnheit, mit alleinstehenden Frauen Süßholz zur raspeln, ihnen die Ehe zu versprechen und ihre Briefe, wenn sie erst mal angebissen hatten, bei seinen Freunden zu deren Belustigung herumzureichen.
    Bei Maria aber geriet er an die Falsche. Eine Weile verbrachte sie ihre freien Sonntage in der Wohnung des väterlichen Bewunderers. Nach einiger Zeit aber drohte Marie, die ihre Mädchenschönheit verblühen fühlte, O’Connor recht nüchtern mit dem Abbruch ihrer Liaison.«Wozu sollen wir unsere Korrespondenz weiterführen?», schrieb sie ihm 1846 kühl.«Sie sprechen ja doch nie vom Heiraten.»
    Derart zurückgewiesen, fing nun der Hagestolz Feuer und wollte durchaus vom Heiraten reden. Marie aber hielt ihn, der gern mit seinem Bargeld und seinen französischen Eisenbahnaktien prahlte, mit Zuckerbrot und Peitsche auf Distanz; und als sie einen wesentlich jüngeren Mann, den Wirtssohn Frederick George Manning aus Taunton kennenlernte, musste O’Connor sich auch damit abfinden.
    Frederik Manning war zwar zwanzig Jahre jünger als O’Connor und hatte noch seine eigenen Zähne, aber ein Traumprinz war er ebenso wenig. Laut dem Steckbrief, den die Polizei später verbreitete, war er«5 Fuß und 8 oder 10 Inches groß, stämmig, hellblond und rote Gesichtsfarbe, aufgedunsen, schütteres Haar, blasser, kurzer Backenbart, hellblaue Augen, sonderbar geformte äußere Augenwinkel». Unerwähnt ließ die Polizei höflicherweise, dass er ein übler Säufer war, der nach ein paar Brandys ins Prahlen und Krakeelen geriet und in nüchternem Zustand ein maulund hirnfauler Geselle war, der in Gesellschaft eines jungen Mädchens kein vernünftiges Wort hervorbrachte. Außerdem kam hinzu, dass sein Gehalt als Eisenbahnwärter bei den Great Western Railways äußerst bescheiden ausfiel. Man kann mit Sicherheit davon ausgehen, dass Marie seinem Charme weder auf den ersten noch auf den zweiten Blick erlag; aber als er durchblicken ließ, dass ihm mütterlicherseits ein Erbe von sechshundert Pfund zustehe, fand sie das schon sehr interessant. Und da sie nicht länger auf O’Connors vage Versprechungen bauen wollte, teilte sie fortan ihre freien Sonntage unter den zwei Männern auf. Die damit verbundenen Heimlichkeiten fanden ein Jahr später ein Ende, als Frederick Manning ihr in einem seltenen Anfall von Entschlussfreudigkeit einen Heiratsantrag machte. Marie fackelte nicht lang und gab ihm am 27. Mai 1847 in der noblen St.-James-Kirche zu Piccadilly das Jawort.
    Marie war die Ehe nicht aus leidenschaftlicher Liebe, aber doch aus Überzeugung eingegangen. Sie war schon Ende zwanzig – immer noch hübsch und keine alte Jungfer, aber auch kein ganz junges Mädchen mehr. Je mehr Zeit verstrich, desto gefährlicher wurde die Lage; bald würde ein kleiner Unfall oder eine Krankheit genügen, um sie in der Gosse landen zu lassen, wo sie den Rest ihrer Tage verdämmern würde in Gesellschaft der Millionen Bettler, Huren, Siechen, Säufer und Gauner, die die britische Klassengesellschaft

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