Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
wisse. Am vierten Tag erschienen morgens um neun Uhr zwei Polizisten und stellten eindringliche Fragen, und dann übermannte Marie wohl die Angst: Sie packte ihre schönen Kleider in drei große Reisekoffer und verließ um drei Uhr nachmittags das eheliche Heim in einer Mietdroschke. Das Geld und die Aktien nahm sie mit, Frederick ließ sie zurück. Sie fuhr zum Bahnhof Euston, von wo die Züge nach Schottland abgingen.
Eine Woche später wurde Marie in Edinburgh im Büro eines Aktienhändlers verhaftet, weil sie französische Eisenbahnaktien zu verkaufen versuchte, die als gestohlener Besitz Patrick O’Connors, dessen Leiche man inzwischen unter dem Manning’schen Küchenboden gefunden hatte, gemeldet waren. In Maries Gepäck fanden sich die Eisenbahnaktien nebst Banknoten, Schuldscheinen und Goldmünzen sowie Frederick Mannings Testament, das allen Besitz seiner Gattin vermachte. Außerdem fand sich in Maries Kleiderkoffer ein Kleid aus schwarzem Satin, dessen weiße Halskrause mit Blut bespritzt war. Die kleine Marie, die ihre schönen Sachen so sehr liebte, hatte es nicht übers Herz gebracht, sich von dem verräterischen Kleidungsstück zu trennen.
Ehemann Frederick war, nachdem er Maries Verschwinden bemerkt hatte, auf die Insel Jersey geflohen, hatte jeden Tag eine Flasche Brandy getrunken und zwei Wochen lang auf seine Verhaftung gewartet. Zwei Polizisten stürmten sein Zimmer am Montag, dem 27. August 1849, um halb zehn Uhr abends.«Habt ihr das Luder schon erwischt?», fragte er als Erstes.«Gott sei Dank, das rettet mir das Leben. Ich bin unschuldig wie ein Lamm.»
Der Strafprozess war kurz, die Beweislage erdrückend. Zwar wurde nie mit letzter Sicherheit geklärt, ob Marie oder Frederick den Pistolenschuss abgefeuert hatte, denn die beiden Eheleute bezichtigten einander gegenseitig der Tat. Nicht den geringsten Zweifel aber konnte es daran geben, dass beide gemeinsam den Mord von langer Hand über Tage und Wochen hinweg geplant hatten.
Einzig Marie strahlte vom ersten bis zum letzten Prozesstag ruhige Zuversicht aus. Sie beantwortete alle Fragen höflich und mit bescheiden niedergeschlagenen Augen, und sie war stets fein in schwarzen Satin und Samt gekleidet. Sie sei«eine ausnehmend hübsche Frau von ansehnlicher, beinahe maskuliner Gestalt», schrieb der Observer ,«ihre Manieren scheinen (…) die einer vollkommenen Lady zu sein.»
Marie verlor die Fassung erst, als der Richter das Urteil verlas und verkündigte, dass man sie und ihren Mann am Hals aufhängen werde bis zum Tod, ihre toten Körper innerhalb der Gefängnismauern verscharren und ihre Seelen der Gnade des Herrn überantworten werde.«Es gibt kein Recht und keine Gerechtigkeit für Ausländer in England!», rief sie und beteuerte einmal mehr ihre Unschuld.«Wie ein Tier im Wald hat dieses Gericht mich behandelt, aber nicht wie einen Christenmenschen!»Und als der Richter sie aus dem Saal entfernen ließ, rief sie ein letztes Mal:«Schande über England!»
In der Todeszelle des Horsemonger-Lane-Gefängnisses schrieb Frederick kleine Briefe, in denen er Marie vergeblich anflehte, endlich ihre Schuld einzugestehen, damit sie beide in Ruhe vor ihren Schöpfer treten könnten. Sie aber sandte verzweifelte Hilfe- und Gnadengesuche an die Herzogin Sutherland und Königin Victoria, in denen sie ihre Unschuld beteuerte, und wies bis zum Schluss jeden geistlichen Beistand zurück.
Die Hinrichtung war auf den 13. November 1849 angesetzt. Frühmorgens um sieben kleidete Marie sich mit aller Sorgfalt an; als eine Wärterin ihr Baumwollstrümpfe reichte, sagte sie:«Bitte nicht diese, meine Liebe, lieber die weißen Seidenstrümpfe.»Erst als der Gefängnisgeistliche die Eheleute in der Gefängniskapelle ein letztes Mal zusammenführte, versöhnte Marie sich endlich mit ihrem Schicksal und ihrem Ehemann; die beiden weinten, küssten und umarmten einander, bevor der Scharfrichter ihnen die Arme fesselte. Marie bat darum, dass man ihr eines ihrer feinen schwarzen Taschentücher vor die Augen binde, damit sie den Galgen nicht sehen müsse, und Frederick flehte den Geistlichen an, unbedingt zu verhindern, dass von seiner Leiche ein Gipsabdruck gemacht werde, da er nicht als Wachsfigur in diesem«verfluchten Kabinett der Madame Tussaud»enden wolle. Dieser Wunsch sollte nicht in Erfüllung gehen. Keine vier Stunden später betrat Marie Tussauds Sohn Joseph mit reichlich Gips die Totenkammer des Gefängnisses, und Frederick und Maria Mannings
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