Himmelsstürmer - Capus, A: Himmelsstürmer
andere Mal zur Ader, bis Byron beide Arme ausstreckte und rief:«Kommt her, ihr Schlächter, und nehmt so viel Blut ihr wollt, aber macht ein Ende!»
Es half alles nichts, er starb am Ostermontag, dem 19. April 1824, um sechs Uhr abends, ohne je an einem nennenswerten Kampf teilgenommen zu haben – und sein Feind Meyer war bei ihm. Mag sein, dass Byrons vier Ärzte den Schweizer Kollegen herbeigerufen hatten, um seinen Rat einzuholen, vielleicht hatten sie auch nur Medikamente bei ihm bestellt.«Lord Byron ist in meinen Armen gestorben», schrieb Meyer wenig später triumphierend.«Sonderbare Sache, dass jener, welcher meine Zeitung schlechtmachte, in meinen Armen sterben musste. Ich kenne jetzt alle seine Winkelzüge, aber ich habe gewonnen, Gott sei gedankt … Byron ist tot! Schadet sein Tod der Sache Griechenlands? Nein …»
Kurz nach dem letzten Atemzug des Dichters machten sich die vier echten und der falsche Arzt an die Sektion des Leichnams. Da er für den Transport nach London einbalsamiert werden sollte, entfernten sie die inneren Organe und das Gehirn. Bei dieser Gelegenheit ließ Hans Jakob Meyer seine Kollegen wissen, dass Lord Byrons Hirn von ganz ähnlicher Form, aber wesentlich größer sei als jenes der Madame de Staël, das er sieben Jahre zuvor habe betrachten dürfen.
Hier könnte nun leicht der Verdacht aufkommen, dass der hochstaplerische Meyer seine Anwesenheit an Byrons Sterbebett bloß erfunden hat, um seine eigene Biographie anzureichern – aber es gibt unverdächtige Zeugen. 1825 bestätigte ein Weggefährte Byrons, der italienische Graf Pietro Gamba, in seinen Memoiren Meyers Bericht in vollem Umfang. Und 1856 berichtete der deutsche Arzt Heinrich Treiber, der Byron in Missolunghi behandelt hatte, dass er am Bett des Verstorbenen gestanden und zu Meyer gesagt habe:«Drücken wir ihm jeder ein Auge zu. Eine Leuchte der Welt ist erloschen!»
Meyers Triumph sollte nicht lange währen. Schon ein Jahr nach Byrons Tod, im April 1825, stand der türkische Oberbefehlshaber Reschid Pascha mit zehntausend Mann vor Missolunghi, und im Juli schloss die türkische Flotte das Städtchen gegen die See ab. Die griechischen Verteidiger hielten dem Ansturm der Feinde gegen den Erdwall stand, aber nach mehrmonatiger Belagerung griff der Hunger um sich. Am 20. Februar 1826 verstummte die Hellenische Chronik , weil eine feindliche Granate die Druckerpresse traf. Die Typen vergrub Meyer eigenhändig, damit sie dem Feind nicht in die Hände fielen. Erbittert stellte er fest, dass viele Offiziere des muslimischen Heers ausgediente Soldaten der napoleonischen Armee waren; ob sich unter ihnen die ägyptischen Zwillinge der Regula Engel befanden, weiß man nicht.
Im Frühjahr 1826, zwei Jahre nach Lord Byrons Tod, wurde die Hungersnot im Städtchen unerträglich.«Wir sind genötigt, uns von den unreinsten Tieren zu nähren», schrieb Hans Jakob Meyer an einen Freund,«leiden furchtbar Hunger und Durst und sind mit Krankheiten geschlagen. Von unsern Brüdern sind 1740 tot. Mehr als 100 000 feindliche Bomben und Kugeln haben unsre Wälle, unsre Häuser zerstört. Auch die Kälte quält uns bei unserem gänzlichen Holzmangel. Bei so vielen Entbehrungen ist es ein großes, ein erhabenes Schauspiel, den Mut der Besatzung, ihre Hingebung zu sehen. In wenigen Tagen werden so viele Tapfere nur noch Engelsseelen sein …»
Seit Beginn der Belagerung hatte der türkische Kommandant Reschid Pascha den Griechen immer wieder einen milden Waffenstillstand und freien Abzug angeboten; aber die Philhellenen waren entschlossen, sich bis zum letzten Mann zu verteidigen.«Mich macht der Gedanke stolz, dass das Blut eines Schweizers, eines Enkels von Wilhelm Tell, sich mit dem Blute der Helden Griechenlands mischen soll», schrieb Meyer kurz vor dem Ende.
In der Nacht vom 22. auf den 23. April 1826 versuchten die Philhellenen in einem verzweifelten Ausfall, den Belagerungsring zu durchbrechen und die nachströmenden Frauen und Kinder in Sicherheit zu bringen. Aber der Verteidigungswall, der die Stadt vier Jahre lang so zuverlässig beschützt hatte, erwies sich in umgekehrter Richtung als unüberwindbares Hindernis. Die Türken schlugen die Griechen ohne Schwierigkeiten zurück und strömten hinter ihnen her in die Stadt. Darauf folgte ein Gemetzel, dem fast alle Einwohner zum Opfer fielen.
Auf welche Art Hans Jakob Meyer aus Zürich, der an jenem Morgen siebenundzwanzig Jahre und hundertundzwölf Tage alt war, den Tod fand,
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